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Archiv-Artikel

Kopflose Revolution

INTERNET-AKTIVISMUS Die Protagonist_innen der ägyptischen Revolution hielten keine flammenden Reden, sondern bloggten nüchterne Berichte

„In einer Diktatur ist Journalismus eine Form von Aktivismus“

HOSSAM HAMALAWY, BEKANNTESTER BLOGGER UND AKTIVIST ÄGYPTENS

VON JULIANE SCHUMACHER

Razan Ghazzawi ist hochgefragt. Als junge Frau. Als bekannte syrische Internet-Aktivistin. Und als jemand, die fließend Englisch spricht, studiert hat und sich westlichen Akademiker_innen gut verständlich machen kann. „Internet-Aktivisten werden überschätzt“, bloggte sie jedoch über sich und die anderen bekannten Aktivist_innen, bevor sie wieder zu einer internationalen Konferenz flog, „‚Soziale Medien + Revolution‘ ist das bescheuertste und nervigste Thema, das sich sogenannte ‚Experten‘ ausgedacht haben, die keine Ahnung haben.“

Die Bewegungen der arabischen Länder sind ein undankbares Feld für die Medien, die gern nach Gesichtern suchen, an denen sie ihre Geschichten aufziehen können, die sie zu Führer_innen und Sprecher_innen stilisieren können, die aufsteigen und fallen. Der Tahrirplatz jedoch ist immer eine Masse geblieben: groß, unübersichtlich, beeindruckend – und fremd. Das Fehlen von intellektuellen Wortführer_innen war ein Charakteristikum der Bewegungen in Ägypten, im arabischen Raum. Sie haben keine akademische Avantgarde, die die Forderungen der Straße in die Kategorien der westlichen politischen Theorie, die Sprache des gebildeten Bürgertums übersetzt.

Das liegt vielleicht daran, dass die Bewegung nicht von Student_innen, sondern von den jungen, marginalisierten Prekären geprägt ist. Interessant ist jedoch, dass gerade diejenigen, die die Rolle einer solchen Avantgarde hätten einnehmen können, die wenigen politisch erfahrenen Aktivist_innen, sich in gewissem Sinne verweigerten. Statt vorzutreten, traten sie, als die Revolution ihre Dynamik entfaltete, einen Schritt zurück.

Subjektive Reflexionen

Diese Blogger_innen-Aktivist_innen spielten eine prägnante Rolle während und nach der Revolution – als häufig einzige, die gut genug Englisch sprachen, um ausländischen Journalist_innen und Forscher_innen als Ansprechpartner_innen zu dienen, als übers Internet gut vernetzte Gruppe. Sie wurden zu den bekanntesten Gesichtern der Bewegung, aber sie stellten sich nie vor sie. Sie sprachen nie für andere. Ihre Blogeinträge sind keine politischen Statements, keine flammenden Reden für die Bewegung. Sondern häufig sehr subjektive, nachdenkliche Reflexionen. Oder die nüchterne Dokumentation von Ereignissen, sauber recherchiert und die verschiedenen Sichtweisen und Darstellungen einander gegenüberstellend.

Die ägyptischen Aktivist_innen-Blogger_innen nahmen nicht die Rolle von Anführer_innen ein oder von Sprecher_innen der Bewegung, sondern von Beobachter_innen – die klassische Rolle von Journalist_innen. Sie waren unermüdlich bei jeder Aktion, jeder Veranstaltung. Die Spiegelreflexkamera in einer Hand, das Smartphone in der anderen, Videokamera und Laptop umgehängt, glichen sie einer wandelnden Nachrichtenagentur des Widerstandes, die zugleich für Wort, Bild und Ton verantwortlich war und minütliche Updates über Twitter verschickte.

Das war während der Revolution eine äußerst politische Aufgabe, weil die Medien sich daran nicht wagen wollten – oder von der Zensur gehindert wurden. Die Blogger_innen-Aktivist_innen waren keine Aktivist_innen der Rede, sondern der Dokumentation, sie standen nie auf einem Podium, sondern waren immer zwischen den eigentlichen Akteur_innen der Revolution unterwegs. Ihre Aufgabe bestand darin, die Handlungen der Bewegung zu dokumentieren. Ihre Waffe bestand aus einer Kamera. Sie redeten nicht, sie nahmen auf und leiteten weiter. Sie gaben nichts vor, sie riefen nicht auf. Sie glaubten, dass die Menschen selbst entscheiden würden, wenn sie die Wahrheit kannten.

Information als Agitation

„In einer Diktatur“, steht auf dem Blog von Hossam Hamalawy, dem bekanntesten Blogger und Aktivisten Ägyptens, „ist unabhängiger Journalismus von selbst eine Form von Aktivismus, und die Verbreitung von Information ist notwendigerweise ein Akt der Agitation.“

Es wäre falsch, diese besondere Rolle der Blogger_innen-Aktivist_innen nur darauf zurückzuführen, dass die Medien aufgrund der Zensur ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachkommen konnten. Die Rolle der Blogger_innen-Aktivist_innen hatte einen politischen Gehalt – und dieser wird noch deutlicher dadurch, dass diese starke Basis-Orientierung, dieses Fehlen der Intellektuellen, die geringe Rolle von politischer Theorie nicht auf Ägypten beschränkt ist. Wer spricht für die russischen Demonstrant_innen? Wer ist das eine präsente Gesicht der spanischen Jugendbewegung 15-M? Wie in Ägypten, so haben sich auch die Bewegungen in anderen Ländern im vergangenen Jahr eher nach Daten denn nach Personen benannt. Spricht daraus politische Unreife, Naivität, fehlendes politisches Bewusstsein? Oder eine Lehre aus jahrzehntelangen Erfahrungen? Ein neues politisches Bewusstsein?

Wie dem auch sei: Die besondere Rolle der Blogger_innen-Aktivist_innen in Ägypten wurzelte nicht nur in einer bewussten Zurückhaltung der Privilegierten, einer hohen Achtung vor denen, die die Revolution durchgekämpft hatten – sondern auch im neuen Selbstbewusstsein derer, die bisher nicht sprechen durften, die immer das Objekt der Sprache, der Handlungen der anderen waren und nun hochsensibel dafür waren, nicht eine Form der Unterdrückung durch eine andere zu ersetzen, nicht wieder benutzt zu werden für die Ziele anderer. Dies zeigte sich bereits in den Diskussionen um die Rolle Wael Ghonims. Der ägyptische Google-Manager hatte mit seinen Aufrufen zur ersten großen Demonstration am 25. Januar 2011 eine zentrale Rolle gespielt. Als er noch während der Revolution aus kurzer Haft freigelassen wurde, äußerte er sich äußerst zurückhaltend: Nicht er habe die Revolution gemacht, der Dank gebühre den Menschen auf der Straße.

Und diese Menschen wiesen das nicht zurück, im Gegenteil: Er hat recht, sagten sie. Er hat richtig gehandelt, er hat gute und richtige Aussagen gemacht, aber jetzt stand er genug im Rampenlicht, wir brauchen keine Held_innen und keine Führer_innen. Wael Ghonim wurde nicht zu dem Helden, dem Sprachrohr, das vor allem die westlichen Medien gern aus ihm gemacht hätten, er hatte seine Rolle gespielt, kurz darauf war er wieder ein Protagonist der Revolution unter tausend anderen.