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Wenn es mit dem Film nicht klappt

Eigentlich wollte Orhan Çalışır einen Film über die wilden Streiks von 1973 drehen. Doch daraus wurde nichts. Nun ist auf Grundlage seiner Vorarbeiten und Recherchen eine Ausstellung in der Bremer Kulturwerkstatt Westend entstanden

Die wilden Streiks von 1973 gelten als erster massenhafter Widerstand gegen rassistische Diskriminierung in Betrieben Foto: Focke Museum

Von Wilfried Hippen

Wenn ein Filmprojekt scheitert, hört man in der Regel nie wieder etwas davon. Das Material wandert in die Schublade und im besten Fall berappeln sich die Fil­me­ma­che­r*in­nen nach der Enttäuschung und machen mit dem nächsten Filmprojekt weiter. Der Bremer Dokumentarfilmer und Autor Orhan Çalışır hat jedoch einen Weg gefunden, seine Recherchen und Vorarbeiten für einen gescheiterten Film aufzubewahren. Und zwar, indem er sie in eine Arbeit in einem anderen Medium einfließen lässt. Gemeinsam mit Dirk Meißner realisierte er eine Ausstellung.

Ursprünglich wollte Orhan Çalışır einen Dokumentarfilm über die 1973 von türkischen, griechischen und spanischen Arbeiterinnen und Arbeitern geführten und letztlich verlorenen Streiks in der deutschen Schwerindustrie drehen. Çalışır hatte sie als kleiner Junge selbst miterlebt, denn er war 1971 aus der Türkei nach Bielefeld-Brackenwede gezogen, wo sein Vater bei Rheinstahl arbeitete – und dann 1973 in den Streik trat. Çalışır erhielt für dieses Filmprojekt zwar ein Projektstipendium des Bremer Filmbüros, konnte dann aber keine weiteren Fördermittel mehr auftreiben, sodass der Film nicht zustande kam.

Zusammen mit Dirk Meißner entwickelte Çalışır dann das Konzept für eine kleine Ausstellung, deren Mittelpunkt vier kleine Monitore bilden, auf denen Interviews abgespielt werden, die Orhan Çalışır mit Zeit­zeu­g*­in­nen geführt hatte. Dieses Drehen von Interviews, bevor die Entscheidung für oder gegen einen Film gefallen ist, ist im Dokumentarfilm üblich. Denn diese Aufnahmen sind später oft nicht mehr möglich. Materialsicherung ist der Fachbegriff dafür. Die Ausstellung, die in Kooperation mit dem Bremer Focke-Museum und der Angestelltenkammer konzipiert und produziert wurde, ist nun bis zum 2. August in der Kulturwerkstatt Westend in Bremen Walle zu sehen.

Von der Bild abwertend als „Türkenstreiks“ bezeichnet, gelten die „wilden“ Streiks von 1973 heute als erster massenhafter Widerstand gegen rassistische Diskriminierung in bundesdeutschen Betrieben. Migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter wurden damals durchweg schlechter bezahlt und ihre Arbeitsbedingungen waren schlechter. So klingen ihre damaligen Forderungen aus heutiger Sicht in ihrer Bescheidenheit rührend: „Eine D-Mark mehr“ war die wichtigste Forderung, aber in manchen Betrieben wäre man schon mit einer Erhöhung des Stundenlohns um 50 Pfennig zufrieden gewesen.

„Eine D-Mark mehr“ war die wichtigste Forderung, aber in manchen Betrieben wäre man schon mit einer Erhöhung des Stundenlohns um 50 Pfennig zufrieden gewesen

Gefordert wurden auch sechs Wochen Urlaub am Stück, denn so lange brauchten zum Beispiel türkische Arbeiter, um einmal im Jahr mit ihren Familien in die Heimat zurückzukehren. Überraschend war, dass sich viele Frauen an dem Streik beteiligten, so zum Beispiel die überwiegend türkischen Arbeiterinnen der Hellawerke in Lippstadt, die Autoteile herstellen. Zwei der Videointerviews hat Orhan Çalışır anschließend mit Zeitzeuginnen geführt.

Seine Interviewfilme sind online zu finden (streiks73.pageflow.io/streiks73), denn parallel zu Orhans Arbeit wurde 2023 in Nordrhein-Westfalen ein Multimediaprojekt zum 50. Jahrestag der Streiks produziert, zu dem Orhan Çalışır seine Interviewsequenzen beisteuerte.

Selbstermächtigung: Spiegel-Titel zu den wilden Streiks vom September 1973 Foto: Focke Museum

Die Ausstellung in Bremen besteht vor allem aus drei Guckkästen, in denen die Gespräche mit den Zeit­zeu­g*­in­nen in Endlosschleife laufen. Daneben werden Fotos, Zeitungsartikel und Faksimiles von Dokumenten gezeigt. So zum Beispiel ein Flugblatt mit den sechs Forderungen der Streikenden bei Ford in Köln. Der Politkünstler Klaus der Geiger gehörte damals zu den Unterstützern des Streiks, und der heute 84-Jährige gab zur Ausstellungseröffnung am 2. Juni auch ein kleines Konzert.

Die Ausstellung ist konsequent zweisprachig, denn eine der Hauptmotivationen von Orhan Çalışır ist, dass Türkinnen und Türken in Deutschland ihre eigene Geschichte besser kennenlernen. Sein Wunsch ist aber auch, dass die Ausstellung später einmal in Istanbul gezeigt wird. Und auch die Hoffnung auf den Film hat er noch nicht ganz aufgegeben: „Wenn ich das Geld bekomme, fange ich sofort wieder an!“

„Die wilden Streiks von 1973“: bis 2. 8., Bremen, Kulturwerkstatt Westend

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