: „Mit dem Schmerz leben“
MEDITATION Mit Achtsamkeitsmeditation versucht das Tibetische Zentrum Hamburg, Menschen mit chronischen Schmerzen zu helfen. Schmerztherapeut Peter Tamme erklärt, wie das geht
Nach seinem Biologie-Diplom absolvierte Peter Tamme ein Medizinstudium und Ausbildungen zum Schmerz- und Psychotherapeuten. Er arbeitete als Arzt an der Universitätsklinik Tübingen, bis er 1988 seine Praxis in Lüneburg eröffnete. Seit 2007 gibt er Kurse in achtsamkeitsbasierter Schmerztherapie. FOTO: TIBETISCHES ZENTRUM
VON CARINA BRAUN
Herr Tamme, ist es möglich, körperliche Schmerzen durch die Psyche zu heilen?
Peter Tamme: Nein, aber das ist auch nicht das Ziel der Achtsamkeitsmeditation. Wir wollen mit ihr die psychischen Faktoren behandeln, die den Schmerz verstärken und ihn aufrechterhalten – aktuelle Stressoren, Traumata in der Lebensgeschichte, Erinnerungen.
Wie sehr können diese Faktoren einen körperlichen Schmerz beeinflussen?
Schmerzen werden in der Therapie mit einem Wert zwischen 0 und 10 beschrieben, wobei 10 für einen Ohnmachtsschmerz steht. Ich habe mich oft gewundert, warum Leute den Höchstwert angaben, obwohl sie die Treppe zur Praxis heraufgekommen waren und sich unterhalten konnten. Ich hatte nach dem Schmerz gefragt, die Patienten haben aber mit ihrem persönlichen Leid geantwortet. Wenn psychische Faktoren hinzukommen, wird ein Schmerz mit dem Wert 3 rasch zu einer 8 oder 9. Wenn wir dann die Psyche therapieren, können wir ihn wieder auf 3 reduzieren.
Mit welchen Beschwerden kommen Patienten zu Ihnen?
Vor allem mit chronischen Schmerzen. Es kann sein, dass ein Patient sagt, sein Knie tue höllisch weh. Er war schon beim Orthopäden, beim Radiologen und bei anderen Ärzten, aber alle sagen, es wäre in Ordnung. Er hatte einmal eine Verletzung, die nicht mehr da ist, aber wegen der psychischen Faktoren nimmt er sie noch immer wahr. In einem Gespräch versuchen wir dann, herauszufinden, wie achtsam der Patient ist.
Was bedeutet „achtsam sein“ im Rahmen Ihrer Therapie?
Achtsamkeit besteht aus vielen Faktoren, zum Beispiel innerer Ruhe oder eines so genannten inneren Beobachters, der dann fragt: Ist man in der Lage, zu akzeptieren? Gleichmut zu entwickeln? Loszulassen? Wenn wir feststellen, dass einige dieser Parameter beim Patienten ungünstig verteilt sind, setzen wir verschiedene Verfahren ein.
Wie laufen diese Verfahren konkret ab?
Ähnlich dem autogenen Training, wird der Patient erst in einen entspannten, trance-ähnlichen Zustand versetzt. Dann machen wir verschiedene Übungen: Der Therapeut spricht und leiht dem Patienten so quasi seine Stimme, ähnlich wie ein Hypnotiseur. Es ist wie beim Ärger: Wenn ich mich über jemanden ärgere, komme ich nur weiter, indem ich auf die Gefühle schaue, die in mir selbst entstehen. Ich versuche, zunächst innere Ruhe zu gewinnen.
Welche Techniken gibt es da?
Zum Beispiel kann ich mich aufs Ausatmen konzentrieren – das ist der passive, entspannende Teil der Atmung. Dann werde ich ruhiger und kann mich mit dem Ärger disidentifizieren. Ich denke nicht mehr „ich ärgere mich“, sondern ich denke: „Ärger kommt in mir hoch“. Damit schaffe ich einen Abstand und bin in der Lage, ihn eher zu akzeptieren. Es geht nicht darum, etwas verändern oder bekämpfen zu wollen, nur darum, etwas wahrzunehmen. Wenn ich hinsehe, werden die Dinge kleiner. Erst dann kann ich loslassen.
Und ähnlich funktioniert es beim Schmerz?
Genau. Wir sind verstrickt in Gedanken und Erinnerungen, die wir mit dem Schmerz verbinden. Lösen wir uns aus diesen Verstrickungen, wird auch das Leid kleiner. Wir können den Schmerz auf seinen körperlichen Ursprung reduzieren. Erst dann behandeln wir mit Medikamenten.
Die Achtsamkeitsmeditation ersetzt also die Schulmedizin nicht?
Nein, sie ergänzt sie nur. Vor der Behandlung versuchen wir im Gespräch festzustellen, welcher Teil der Schmerzen körperlich und welcher psychisch verursacht wurde. Wenn letztere eine besonders große Rolle spielen, wenden wir erst die Meditation an und danach die konservativen Methoden, also Medikamente, Spritzen oder auch Operationen.
Es gibt viele Menschen, die spirituellen Methoden ablehnend gegenüber stehen...
Die Achtsamkeitsmeditation ist nicht spirituell, sondern eine Art der Psychotherapie. Zwar kommt sie ursprünglich aus dem Buddhismus, aber die Weltanschauung spielt bei uns keine Rolle. Trotzdem stimmt es, dass viele eine solche Therapie erst einmal für verstiegen und esoterisch halten. Auf intellektueller Ebene lässt sie sich nur schwer nachvollziehen, aber ihr Erfolg ist messbar.
Wie denn?
An der Universität Freiburg wurde ein Fragenkatalog entwickelt, mit dem der Patient sich vor und nach der Therapie selbst einschätzen kann. Er gibt dann an, ob Sätze wie „Ich akzeptiere mich so, wie ich bin“ auf ihn zutreffen. Daraus wird errechnet, wie achtsam er ist. Gleichzeitig bewertet er auch seinen Schmerz. Nach der achtwöchigen Therapie sieht man dann, dass das Bild sich umgekehrt hat: Der Teilnehmer weist eine deutlich höhere Achtsamkeit auf, während das durch den Schmerz hervorgerufene Leid gesunken ist.
Sie bieten auch Ferntherapie an. Wie funktioniert das?
Die Patienten bekommen einen Zugangscode und können sich im Internet in die Sitzung einwählen. Zugleich haben sie schriftliches Material und CDs mit meiner Stimme zuhause. Das hat nichts mit Fernheilung zu tun. Es ist, als würde man eine CD für autogenes Training kaufen, um damit zu üben.
Wirkt die Achtsamkeitsmeditation denn bei jedem?
Nein, man muss bestimmte Voraussetzungen mitbringen, die Fähigkeit zur Selbstreflexion zum Beispiel – und vor allem die Offenheit, sich auf etwas Neues einzulassen.
Wie würden Sie, zusammenfassend, das eigentliche Ziel der Achtsamkeitsmeditation beschreiben?
Man muss erkennen, was am eigenen Handeln schmerzverstärkend ist – um damit leben zu können. Vielen fällt es schwer, etwas einfach geschehen zu lassen. Macht sich jemand ständig Gedanken, was wäre, wenn er sich nicht verletzt hätte, lebt er nicht mehr in der Realität. Er muss sich besinnen auf den einzigen Moment, in dem er wirklich etwas ändern kann: Hier und Jetzt. Nur dann hat er die Möglichkeit, wieder selbstbestimmt zu leben.
26. Oktober bis 14. Dezember, montags ab 19 Uhr, Tibetisches Zentrum Hamburg