DIE MOSKAUER RICHTERINNEN HABEN EINE GANZE EPOCHE VERURTEILT : Schauprozess in Russland
Gestern ging der erste Schauprozess in Russland seit dem Zusammenbruch des Kommunismus vor 14 Jahren zu Ende. Mit neun Jahren Lagerhaft für den ehemaligen Yukos-Chef Michail Chodorkowski und den Mitangeklagten Platon Lebedew blieb das Gericht ein Jahr unter der von der Staatsanwaltschaft geforderten Höchststrafe. Darin bestand die Unabhängigkeit des Gerichts, das sich in der Urteilsbegründung an die Regieanweisungen der Staatsanwaltschaft und des Kreml hielt.
Der Richterspruch trifft nicht allein die Verurteilten. Die Moskauer Richterinnen saßen über eine ganze Epoche der jüngeren russischen Geschichte zu Gericht: den Aufbruch Russlands in eine moderne und offene Gesellschaft. Ein Aufbruch, der in den 90er-Jahren eben nicht nur aus wilden Privatisierungen bestand, sondern in der Gesellschaft auch mit Hoffnungen verknüpft war, dem retardierenden Teufelskreis aus Korruption, Machtwillkür, Menschenverachtung und Menschenrechtsverletzungen seitens der Staatsmacht zu entrinnen. Das Urteil rückt die alten Machtverhältnisse wieder zurecht – für in- und ausländische Investoren bleibt Russland ein Wagnis. Die Konsequenzen für die Modernisierung sind der politischen Führung bekannt. Sie hat sich bewusst entschieden, das Land vom Fortschritt abzukoppeln. Nun müssen die Bürger prüfen, ob sie den überbordenden Patriotismus des Machtzentrums weiterhin für bare Münze nehmen wollen.
Das Urteil hat Chodorkowski als politischen Konkurrenten mit einer demokratischen Vision für die nächsten Präsidentschaftswahlen ausgeschaltet. Dennoch ist der Unternehmer ob seiner Unbeugsamkeit gerade für Jugendliche zu einem Helden geworden. Nicht gesagt ist daher, ob sich der Kreml mit dem gnadenlosen Verdikt nicht einen Bärendienst erweist. Es gibt immer mehr junge Leute, die endlich aufrecht gehen möchten. Sie können sich mit dem Staatsanwalt, den ihnen der Kreml als Identifikationsfigur aufzwingt, nicht mehr anfreunden. Sie kennen ihn als Romanfigur aus Russlands satirischer Literatur.
KLAUS-HELGE DONATH