: Auf der Flucht
Sie hat Grund zu lachen. Ingrid Bohsung hat schon vielen Flüchtlingen einen Aufenthalt in Baden-Württemberg ermöglicht. Denn sie kennt das letzte Schlupfloch: die Härtefallkommission des Landes, die nicht nur Paragrafen, sondern auch die menschlichen Schicksale dahinter berücksichtigt. Und die hat Bohsungs Anträgen schon in Dutzenden Fällen recht gegeben
Von Susanne Stiefel
Menschenleben lassen sich nicht in Paragrafen pressen. Flüchtlingsschicksale passen nicht immer in das Korsett von Gesetzen, vor allem, wenn die eher der Abschreckung dienen wie das deutsche Aufenthaltsrecht. Das hat Ingrid Bohsung schnell gemerkt, und so ist die Frau, zu deren 75. Geburtstag kürzlich sechs Kinder samt Lebensgefährten, 17 Enkel und ein Urenkel anreisten, zu einer Expertin in Sachen Flüchtlinge geworden. Schuld war der chinesische Klavierlehrer der Kinder, der abgeschoben werden sollte und die Härtefallkommission, die ein Schlupfloch bietet, weil hier nach humanitären Gesichtspunkten, nicht nur nach Paragrafen entschieden wird. Inzwischen ist die wuselige Frau mit dem wachen Blick eine geübte Kämpferin für Menschlichkeit. Und erfolgreich dazu.
„Etwa 30 Anträge habe ich an die Härtefallkommission gestellt“, sagt Ingrid Bohsung, „bis auf zwei habe ich alle durchgekriegt.“ Die 75-Jährige sitzt in ihrem kleinen Reihenhaus im Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf, in ihrer jugendlichen Stimme schwingt Stolz mit. Hinter dem Meer an Geburtstagsblumen verschwinden die zierliche Frau und ihr Mann fast völlig. Einige der Blumengrüße stammen von den Flüchtlingen, denen Ingrid Bohsung geholfen hat, hier in Deutschland zu bleiben und Fuß zu fassen. Für sie sind das keine Fälle, die abgehakt und vergessen werden, der Kontakt bleibt. Es ist immer viel los im Hause Bohsung.
Wenn Flüchtlinge sich im Gestrüpp der Paragrafen verfangen
Ingrid Bohsung klappt den Faltordner über den Knien auf wie einen Fächer. Jede Klarsichthülle steht für ein Flüchtlingsleben. Hier hat sie all ihre Anträge gesammelt, geschrieben auf einer altertümlichen Schreibmaschine mit Durchschlag. Dieser Durchschlag auf dünnem Papier ist das Ergebnis ihrer zahllosen Gespräche mit den Flüchtlingen. Sie hat sie interviewt, den oft verängstigten Menschen ihre Fluchtgeschichte entlockt, hat immer wieder nachgefragt, wenn ihnen die deutsche Sprache mit der Aufregung durcheinandergeriet, hat sie auf die Ausländerbehörden begleitet.
Und wenn alles nichts half, war da immer noch die Härtefallkommission. Usama Mir und seine Familie gehörten 2005 zu den ersten Erfolgen. Ingrid Bohsung zieht die Klarsichthülle heraus. „Vergangene Woche hat mir Usama seine Bachelorarbeit zur Korrektur geschickt“, sagt sie, „hoffentlich konnte er in der Kürze der Zeit noch alle Anmerkungen einarbeiten.“
Er konnte. Usama Mir hat eine Eins bekommen für seine wissenschaftliche Arbeit. Das Thema: „Einfluss der technischen Entwicklung auf die IT-Aufgaben und -Prozesse am Beispiel von CRM.“ Der 29-Jährige lächelt. Es waren stilistische Anmerkungen, inhaltlich hat Ingrid Bohsung wohl wenig von der Arbeit verstanden. Usama Mir hat sein Studium der Wirtschaftsinformatik in Esslingen begonnen, seit dem Sommersemester 2012 schließt er seinen Master in Reutlingen an. Noch wohnt er bei den Eltern in Feuerbach, er überlegt sich, in eine WG nach Reutlingen zu ziehen. Usama Mir ist längst angekommen in Deutschland. Dabei ist er der Abschiebung nur knapp entkommen.
Es ist unheimlich still in der kleinen Wohnung in Feuerbach, während er erzählt von der Flucht aus Pakistan. Die Eltern wollen nicht darüber reden, die Mutter ist depressiv geworden in dieser Zeit der Unsicherheit, der Vater hangelt sich von McDonald's- zu Putzjob, die Erinnerung ist zu schmerzhaft. Keine Bilder an der Wand, aufgeräumt sieht es aus, Obst steht auf dem Esstisch. Und auf der Couch sitzt der Sohn, auf dem inzwischen alle Hoffnungen liegen wie ein gut gefüllter Rucksack, der manchmal schwer zu tragen ist. Die drei Schwestern leben inzwischen in London, Berlin und Köln. Er, der einzige Sohn, wird der erste Studierte der Familie werden. Es ist eine Erfolgsgeschichte. Die Härtefallkommission hat seinen Antrag vor sieben Jahren positiv beschieden.
Die Härtefallkommission ist für viele Flüchtlinge die letzte Hoffnung
Der Paragraf 23 des deutschen Aufenthaltsrechts erlaubt es den Ländern, eine Härtefallkommission einzurichten, die nach humanitären Gesichtspunkten befindet und eine Empfehlung an das Innenministerium ausspricht. Sie ist sozusagen eine extralegale Einrichtung, die über ein Gesetz geregelt ist und deren Rahmen durch eine Landesverordnung abgesteckt wird. Hier landen die Menschen, die als „Fall“ im Gestrüpp des Asyl- und Aufenthaltsrechts untergegangen sind. Hier wird geprüft, ob menschliche Gründe dafür sprechen, dass Flüchtlinge weiter in Deutschland bleiben können.
Edgar Wais ist der Vorsitzende dieser Kommission in Baden-Württemberg, und er ist dies seit deren konstituierenden Sitzung am 19. September 2005. Der langjährige Reutlinger Landrat und Landkreispräsident kennt Ingrid Bohsung, weil ihr Name unter vielen fundierten Anträgen steht, die fast alle die Zustimmung der Kommission fanden. Er kann sich an Usama Mir nicht erinnern, weil inzwischen etwa 1800 Entscheidungen gefällt wurden. Nach 45 Jahren in der Verwaltung beschäftigt sich der 71-jährige Pensionär ehrenamtlich mit dem Menschen. Ob diese Arbeit Spaß macht? „Spaß nicht. Vieles, was man da liest, geht mir an die Nieren“, sagt Wais, „Befriedigung allerdings schon.“
Am Anfang seiner ehrenamtlichen Arbeit lag ein Berg von 500 Anträgen auf seinem Tisch. Heute sind es im Durchschnitt 100 Härtefälle im Jahr, die die Kommission prüft. Sieben- bis achtmal im Jahr treffen sich die derzeit neun Mitglieder, und fast alle Entscheidungen, so Wais, werden einmütig gefällt. Etwa 1400 Ausländern hat die Härtefallkommission ein Aufenthaltsrecht beschafft, darauf ist Wais stolz. „Wir legen Wert auf Integration“, sagt der langjährige Vorsitzende.
Die scheint beim Wirtschaftsinformatik-Studenten Usama Mir gut gelungen. Doch ohne Ingrid Bohsung und die Härtefallkommission wäre der junge Mann schon längst nicht mehr in Deutschland. Die Familie Mir, und besonders die Männer, hatte sich in den deutschen Gesetzen verfangen. Die sahen vor, den 18-jährigen Usama nach erfolgreicher Fachhochschulreife gemeinsam mit dem Vater nach Pakistan abzuschieben. Die Schwestern und die Mutter hatten eine Duldung, die Männer sollten verschwinden aus Deutschland.
Eines frühen Morgens klingelte die Polizei die Mirs aus dem Bett, „sie standen vor dem Bad, als wir uns wuschen“, erinnert sich Usama Mir mit versteinerter Miene, und sie fuhren die zwei Männer zum Flughafen. In Istanbul war die Abschiebung zu Ende, weil sich die türkischen Behörden weigerten, die zwei Ausgewiesenen nach Islamabad weiterfliegen zu lassen. Vater und Sohn wurden nach Deutschland zurückgeschickt. Der Vater erhielt danach eine Duldung, weil auch die Behörden eingesehen hatten, dass man eine Familie, die seit Jahren in Deutschland lebt, nicht einfach auseinanderreißen kann. Für den Sohn galt das nicht.
Flüchtlingsrat: „Neuordnung der Härtefallkommission ist vertane Chance“
Die Abschiebung droht, wenn die Lebensunterhaltssicherung nicht nachgewiesen werden kann. Das bekamen auch die Mirs zu spüren. Doch wer will schon einen Ausländer anstellen, der nur eine Duldung hat, die in drei Monaten abläuft und bei der unklar ist, ob sie verlängert wird wie bei den Mirs? Das weiß Vera Kohlmeyer-Kaiser aus eigener Erfahrung. „Wir brauchen eine Gesetzgebung, die dem Rechnung trägt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist“, sagt die zweite Vorsitzende des Landesflüchtlingsrats, der sich für die Rechte von Flüchtlingen in Deutschland einsetzt. Vera Kohlmeyer-Kaiser ist Anwältin und kennt die restriktiven gesetzlichen Regelungen, in denen viele Ausländer untergehen. Ist die Härtefallkommission also nur ein Feigenblatt für eine Gesetzgebung, die der Abschreckung dient? „Ja, aber das ist mir zu negativ“, sagt die Aalener Anwältin vorsichtig, „hier bemühen sich Menschen, Lösungen zu finden.“
Doch eins kann die Frau vom Flüchtlingsrat auf die Palme bringen: die geplante neue Verordnung der Integrationsministerin Bilkay Öney. „Da werden nur die Mitgliederzahlen erhöht und andere Formalien verändert“, ärgert sich die Frau vom Landesflüchtlingsrat, der vom Integrationsministerium zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde. Dabei wäre es die Chance gewesen, den Rahmen der Kommission auch an die Realität anzupassen, Verbesserungen für die Flüchtlinge zu schaffen. Etwa die Restriktionen bei der Lebensunterhaltssicherung und bei den Straftaten zu lockern. Und dass sich die Härtefallkommission mit Ausländern befassen darf, die zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben sind.
„Die Härtefallkommission hat ordentlich was bewegt“, sagt Kohlmeyer-Kaiser, „aber von der neuen Verordnung hätten wir mehr erwartet.“ Sie wäre eine Chance für die Flüchtlinge und die neue Ministerin gewesen. „Die Chance wurde vertan“, sagt die Anwältin. Am 17. April wird der Ministerrat über die Verordnung aus dem Hause Öney abstimmen.
Knapp an der Abschiebung vorbei, inzwischen erfolgreicher Student
Es sah lange so aus, als hätte auch Usama Mir keine Chance. Der Junge aus Pakistan war zwar gut integriert. Er war gut in der Schule, er hatte jedoch Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, obwohl er alle Jobs annahm, die er kriegen konnte. Die Abschiebung hing nach dem Abschluss der Fachhochschulreife über ihm wie eine dunkle Gewitterwolke. Dabei war er mit drei Jahren gemeinsam mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen, geflohen aus Pakistan, weil die Familie der islamischen Glaubensgemeinschaft der Ahmadi angehörte, die dort als Ungläubige gelten. Das Land war im fremd, Verwandte hatte er dort nicht mehr, das Haus, das ihnen einmal gehörte, war längst in anderen Händen. Er konnte eine Ausbildung nicht fortsetzen, jobbte als Pizzabäcker, im Büro, er nahm alles, was er kriegen konnte. Als erneut eine Abschiebungsandrohung im Briefkasten steckte, bat er Ingrid Bohsung um Hilfe.
„Sehr geehrte Damen und Herrn der Härtefallkommission“, schrieb Ingrid Bohsung auf ihrer alten Schreibmaschine, nachdem sie den Leidensweg des jungen Pakistaner geschildert hatte, „Ich bitte Sie herzlich, den schweren Fall zu einem guten Ende zu bringen.“ Sie war erfolgreich. Und Usama Mir ist auf dem besten Weg, einen gut dotierten Job in der IT-Branche zu bekommen.