: An die Lebenden
INTELLEKTUELLER MUT Tony Judts autobiografischer Essayband „Das Chalet der Erinnerungen“
Als bei dem großen Historiker und öffentlichen Intellektuellen Tony Judt vor einigen Jahren die seltene Nervenkrankheit ALS diagnostiziert wurde, entwickelte er noch einmal für wenige Monate eine bemerkenswerte Produktivität. Ihr verdanken wir eine Reihe von Büchern, allen voran Judts politisches „Testament“ „Dem Land geht es schlecht“ und nun, schon nach seinem Tod, die Essaysammlung „Das Chalet der Erinnerungen“.
Alle diese späten Texte zeichnen sich nicht nur durch etwas eigentümlich Drängendes aus, dass der Autor uns hier noch etwas mitteilen will, während er weiß, dass die Uhr tickt; Judt lässt in diesen Essays, anders als in seinen großen Studien, alle akademische Konvention hinter sich, er ist mehr Erzähler und Schriftsteller als Geschichtsprofessor. Diese packende Eigentümlichkeit erklärt sich – wie diese schier unglaubliche Produktivität in seinen letzten Lebensmonaten generell – nicht zuletzt aus den Umständen, unter denen diese Texte entstanden sind.
Während Judt „schreibt“, wird sein Körper nach und nach gelähmt, auch wichtige Organfunktionen versagen. So sitzt er, rundum gepflegt, von Maschinen beatmet, tagsüber in seinem Stuhl, nachts liegt er in seinem Bett, Schlaf findet er nur mehr für ein paar Stunden. So formuliert und memoriert er nachts seine Texte, um sie tagsüber zu diktieren. Eine „käferartige Existenz“ nennt er das im Essay „Nacht“: „Dann liege ich da, eingepackt, kurzsichtig und reglos, wie eine moderne Mumie, allein in meinem Körpergefängnis.“
Der Band „Das Chalet der Erinnerungen“ versammelt diese letzten Essays, die ursprünglich im Zwei-Wochen-Rhythmus in der New York Review of Books erschienen sind. Es sind teils Lebenserinnerungen, teils politische und intellektuelle Standpunkte. Im Grunde sagt Judt, was er denkt und wie er zu dem wurde, der heute das denkt.
Es sind Miniaturen eines britischen jüdischen Intellektuellen aus einer Familie der unteren Mittelklasse, der durch Talent, Fleiß und Förderung durch ein Bildungssystem, das allen eine Chance gab, in der Nachkriegszeit in gute Schulen geriet und dann auf Colleges und so zu einem führenden Denker unserer Zeit aufstieg. Es sind aber auch Erinnerungen an das London der fünfziger Jahre, das Paris der sechziger Jahre, an Judts Jugend in zionistischen Gruppen, an das New York der siebziger Jahre.
Nicht zuletzt ist es der Rückblick eines Sechziger-Jahre-Linken, der mit dabei war, als überall der „Muff unter den Talaren“ weggepustet wurde, und der vom Krankenbett einen kritischen Rückblick auf die Errungenschaften seiner Generation wirft. Auf intellektuelle Moden, auf egozentrischen Selbstverwirklichungs-Individualismus, auf den „kulturellen Turn“, dem handfeste Fragen der Gerechtigkeit weniger bedeutend schienen als Fragen von Identität und Kultur. Hier übt Tony Judt oft beißende Kritik und fragt: „Was ist aus den Intellektuellen geworden?“
Anders als manch andere führt Judt diese Selbstkritik nicht ins Lager des Neokonservativismus, sondern er wird zum schärfsten Kritiker des Konservativismus – vom Standpunkt eines grundsätzlichen Sozialdemokratismus. Judt beschreibt, wie ein „sozialdemokratischer Geist“ in der Nachkriegszeit den „einfachen Leuten“ Hoffnung und Lebenschancen gab und von Reformschritt zu Reformschritt mehr Gerechtigkeit und Freiheit realisierte – bis der Elan ausging, aber auch die Weltverbesserer sich vom faden Sozialdemokratismus abwandten.
Wenn Judt etwas will, dann von der Weisheit zu überzeugen, ein Sozialdemokrat zu sein. Er teilt hier gegen linke wortradikale Kraftmeierei aus, hauptsächlich aber gegen neoliberale und neokonservative Hartleibigkeit. Bei aller Elegie dieser Texte lässt sich Judt auch polemische Pointen nicht entgehen: „Gutbezahle Experten bezeichnen Sozialhilfeempfänger gern als Schmarotzer, die der Gesellschaft nur auf der Tasche liegen, und empfehlen ihnen, sich eine anständige Arbeit zu suchen. Sie sollten es einmal ausprobieren.“ Wer würde das nicht gern einmal Leuten wie Hans-Olaf Henkel ins Gesicht sagen?
Immer wieder ist die Verführbarkeit der Intellektuellen ein Thema oder recht persönliche Betrachtungen Judts über seine „jüdische Intellektualität“. In vielen „Traditionen verwurzelt“, findet Judt, „derlei Etiketten ohnehin nutzlos“.
Die Gedankenwelt oder besser die emotionale Welt dieser Texte kreist um Vorstellungen von Ernsthaftigkeit, intellektuellem Mut, von Redlichkeit und Bescheidenheit. „Moralische Ernsthaftigkeit in der Politik ist wie Pornografie – schwer zu definieren, aber man erkennt sie auf Anhieb“. Vielleicht muss man auf dem Totenbett liegen, um all das heute formulieren zu können, denn schließlich ist eine solche Weltsicht, seien wir uns ehrlich, so unhip, dass sie fast schon wieder hip ist.
Und so stellt der tote Tony Judt uns Lebenden womöglich ein recht schlechtes Zeugnis aus. ROBERT MISIK
■ Tony Judt: „Das Chalet der Erinnerungen“. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser Verlag, München 2012, 224 S., 18,90 Euro