: Sprengstoff für mehrere Leben
ELTERNUNTERHALT Das Paar hat keine Kinder, es kümmert sich um die demente Mutter. Wie sich eine Familie um einen Pflegefall herumsortiert – mit beträchtlichem Streitpotenzial
■ In Deutschland bezogen im Jahre 2010 2,42 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung, 1,67 Millionen davon wurden ambulant versorgt, eine Million Gebrechlicher wurde ausschließlich von Angehörigen gepflegt. 45 Prozent der Pflegebedürftigen werden von den Kindern oder Schwiegerkindern betreut. Dieser Anteil ist gestiegen, jedoch leben weniger als die Hälfte der erwachsenen Kinder mit im Haushalt des gebrechlichen Elternteils.
■ Der Anteil der Männer, also der Ehepartner und Söhne, an den Pflegenden steigt. Während 1998 nur ein Fünftel der Hauptpflegepersonen männlich war, beträgt ihr Anteil heute schon mehr als ein Viertel. Nicht selten machen dann ambulante Dienste die Grundpflege. Von den pflegenden Männern arbeiten 72 Prozent Vollzeit, unter den pflegenden Frauen 40 Prozent. Die Prognosen des Gesundheitsministeriums gehen bis zum Jahr 2050 nahezu von einer Verdoppelung der Pflegebedürftigen auf 4,37 Millionen aus.
VON FRANK BÖHRINGER
ESSLINGEN taz | Letzte Woche holte seine Frau einen Brief der Landkreisverwaltung aus dem Briefkasten: „… werden Sie aufgefordert, monatlich 407 Euro Elternunterhalt an das Sozialamt rückwirkend ab Februar zu bezahlen.“ Eine Katastrophe.
„Nein, wir haben keine Kinder, sondern eine demente Mutter“, antwortet seine Frau regelmäßig auf die Frage nach Familienstand und Nachwuchs. Seit ihre Mutter vor acht Jahren mit akuter psychiatrischer Situation in die Gerontopsychiatrie eingeliefert wurde, hat sich das Leben des Paars verändert.
Nach einem halben Jahr in der Psychiatrie war klar: Wegen Eigen- und Fremdgefährdung konnte die Mutter nicht mehr in ihre alte Wohnung zurück. Ein Pflegeheim war ebenfalls undenkbar – mit einer solchen Liste an psychischen und körperlichen Diagnosen. Es fand sich eine betreute Wohnung in einem Altenzentrum der Stadt. Masche um Masche strickte das Paar an einem Netz an Hilfe und Versorgung – und übernahm daran selbst einen großen Anteil.
Beratungsstellen und sozialpsychiatrische Dienste sind eine gute Sache, und doch konnten sie im Grunde nicht helfen. Denn mit dem konkreten Fall, der Mutter, kannte sich das Paar ja sowieso am besten aus, und wegen beruflicher Tätigkeit im Gesundheitswesen war es oft auch in Systemfragen besser informiert. Die Kosten für das gewünschte, für realistisch gehaltene Maß an mütterlicher Selbstbestimmung in den eigenen vier Wänden: knapp 3.000 Euro plus Miete für die betreute Wohnung. Wobei ein Platz im Pflegeheim auch nicht günstiger zu bekommen wäre.
Wegen der emotionalen Ablehnung der Mutter ihren Töchtern gegenüber übernahm er, der Schwiegersohn, die gesetzliche Betreuung. Der Schwiegersohn und Schwager in juristisch definierter Bestimmerrolle: Sprengstoff für die Familie.
Mittlerweile ist das gesamte Ersparte der Witwe aufgebraucht und ihre Lebensversicherung gekündigt. Das Sozialamt finanziert seit Februar den Rest der Kosten, die nicht von der Pflegekasse abgedeckt sind. Plus dem, was nun die Kinder aufbringen. Seine Frau hat noch drei Geschwister, allerdings üben diese sich in Verdrängung. Die Hauptlast und Verantwortung bleibt also an seiner Frau hängen. Abstrakt nennt man das: Familienkonflikte.
Die Ärzte in der örtlichen Klinik kennen die Mutter und begleitendes Tochter-Schwiegersohn-Gespann bereits: Es gibt Stürze – Oberschenkelhalsbruch – oder einen Kreislaufkollaps. Die konkreten Vorgaben des Paars erzeugen natürlich Widerstand: Plötzlich wollen Angehörige über Versorgung und Entlassungszeitpunkt bestimmen. Das ist ungewöhnlich. Doch ohne „Beratung“ wäre die Klinik mit der Mutter auch überfordert.
Pragmatische Lösungen sind mit den Institutionen im Gesundheitswesen oft nicht zu machen. Das ist eine Erkenntnis. Manchmal hilft Überzeugungskraft oder besser klare Kante. Einfach ist das nicht. Das Paar ist voll berufstätig. Die Pflege bestimmt neben dem Job den Wochenablauf fast vollständig. Ganz praktisch oder emotional. Beides ist gleich belastend.
Dankbar ist das Paar den hauptberuflichen Pflegekräften des ambulanten Dienstes, die den Hauptteil der Versorgung übernehmen. Die Mutter lasst sich nicht von allen Pflegerinnen oder Pflegern gleichermaßen helfen. Manches dürfen nur bestimmte Personen machen, ansonsten schlägt die Mutter bisweilen einfach zu: Manche Pflegekraft musste schon eine echte Backpfeife einstecken. Zum Beispiel darf nur die Tochter beim Duschen helfen, das erfordert ein hohes Maß an Koordination und Absprachen.
Das Umfeld des Paars ist oft berührt, solche Erzählungen zu hören. Und natürlich hilflos. Darum erzählt das Paar längst nicht mehr alles. An den Arbeitsplätzen herrscht Verständnis, zum Glück bestehen flexible Arbeitszeitmodelle. Manchmal fragt sich das Paar selbst, wo die Kraft für alles herkommt. Nötig dafür: Erwartungen klar benennen, manchmal auf den Tisch hauen. Damit macht man sich nicht nur Freunde bei Gesprächspartnern mit Helfersyndrom in Gesundheitseinrichtungen. Doch es schafft Raum.
Das Paar ist noch jung, beide 38 Jahre alt, beide kerngesund. Erben werden sie nicht. Statt in eine Altersversorgung oder Immobilien investiert es nun monatlich 407 Euro in die Versorgung der Mutter. Es ist eine gute Investition, für ein gutes Leben.
■ Frank Böhringer, 38, Gesamtpersonalrat aus Esslingen, taz-Genosse seit 2011