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Menschen sind wie Newsticker

Minsk, Odessa, Berlin: Stadtführungen des Vereins querstadtein stellen neue Perspektiven und Verbindungen her

Von Marielle Kreienborg

„Solange man es nicht selbst erlebt“, sagt die geflüchtete Ukrainerin Anna Kurnosova vor dem Café Moskau in der Karl-Marx-Allee, „glaubt man nicht, dass so etwas im eigenen Land passieren kann. Hier in Berlin fühlt sich der Krieg sehr weit weg an.“ Davon, was zwischen dem Beginn der Invasion und heute geschah, erzählt die gebürtige Odessanerin und Mutter zweier Kinder auf einer zweistündigen, bebilderten Stadttour, die über ihre Lieblingsstraße, die Jüdenstraße in Berlin Mitte mit Sicht auf Nikolaikirche, Rotes Rathaus und Altes Stadthaus bis ans Rolandufer und damit zurück ans Wasser führt.

Angekommen in Berlin, erinnert sich Anna, habe sie die enorme Großzügigkeit der Menschen ebenso überrascht wie die Bürokratie auf Schul- und Sozialämtern: „Ständig sagte man mir, man sei nicht zuständig. Ich solle zu jenem Amt gehen. Dort angekommen, erzählte man mir das Gleiche.“

Annas Tour ist eine von zwei neuen politischen Stadtrundgängen des gemeinnützigen Vereins querstadtein zu Berliner Migrationsgeschichten. Die zweite leitet der 24-Jährige Exil-Aktivist Yauheni Huryn. Wie Anna ist auch Yauheni daran gewöhnt, dass Menschen in Deutschland mit seinem Herkunftsland Belarus nichts oder nur wenig anfangen können: „Sie nennen es Weißrussland. Aber Weißrussland existiert seit 30 Jahren nicht mehr. Ein Freund von mir wurde auf der Ausländerbehörde sogar gefragt, was ihn als Belarussen denn zu einer gefährdeten Person machte. Die Leute dort wussten von den Protesten gar nichts.“ Yauheni organisierte als Student während der Proteste im Jahr 2021 Streiks gegen das Lukashenko-Regime: „Eines Morgens klingelte das Telefon. Die Polizei forderte mich auf, aufs Revier zu kommen. Warum, sagten sie nicht. Keine 24 Stunden später saß ich im Flieger.“

Symbol Tempelhofer Feld

Minsk und Berlin, sagt er, den ein Besuch einer anderen querstadtein-Tour über Neukölln und Teheran zu einer eigenen Tour inspirierte, hätten architektonisch viel gemein. Seine Tour startet er deshalb rund um den sowjetisch geprägten Alexanderplatz mit dem Haus des Reisens und dem Haus der Statistik. Doch Berlin hätte ein zweites Gesicht, das Minsk fehlte: Diversität. Für den zweiten Teil der Tour fahren wir deshalb mit der U-8 bis zur Boddinstraße: Angebote wie Rad und Tat, ein Beratungs- und Veranstaltungsort für lesbische und andere Frauen im Neuköllner Schillerkiez, das den 5. Stopp unserer Tour markiert, suche man in Belarus vergebens. Sowohl das kulturelle wie auch das aktivistische Leben im Land lägen brach. LGBTIQ* würden unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet: „Offiziell ist es erlaubt, aber sie erfinden einen Grund. Und wenn du über Menschenrechte redest, verhaften sie dich auch.“

Den Kontrast zwischen Berlin als freier Stadt und Minsk als Stadt in Lukashenko-Hand verdeutlicht Yauheni anhand des letzten Stopps: dem Tempelhofer Feld. „In Minsk hatten wir auch so einen Flughafen: Minsk 1. Aber während das hier ein demokratisch erkämpfter Ort für die Gesellschaft ist, wurde Minsk 1 gentrifiziert: Hässliche Häuser, die Lukashenkos Familie und serbischen Oligarchen, die von Interpol gesucht werden, gehören, und für viel Geld vermietet werden.“

Yauheni bedauert das Kurzzeitgedächtnis der heutigen westlichen Gesellschaft: „Die Menschen sind wie Newsticker: Heute ist es Israel-Palästina und darüber vergessen sie die Ukraine. Belarus haben sie nach den gescheiterten Protesten sowieso vergessen, ebenso wie Syrien, den Iran, Sudan, Bergkarabach – falls sie überhaupt je was davon mitbekommen haben.“ Auch deshalb, so Yauheni, gehe er in seiner Tour, die pro Person 17 Euro kostet, gegen das Vergessen seines Herkunftslandes vor.

Touren können über querstadtein.org gebucht werden

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