: Immer mehr Dicke unterwegs
Die wichtigste Federung am Fahrrad ist der Luftreifen. Eine Erkenntnis, die in den letzten Jahren als äußerst trivial galt, jetzt aber neuen Auftrieb erhält. Ballonbikes machen Radeln mit wenig Aufwand – und wenig Luftdruck – komfortabler
VON HELMUT DACHALE
Wer schon immer meinte, den Federungshype einfach aussitzen zu können, dem dürfte der Relaunch des Ballonreifens gerade recht kommen. Der war vor langer Zeit mal en vogue, damals, als Feder- oder Dämpfungskomponenten am Fahrrad so gut wie unbekannt waren. Deren Funktionen hatten ehedem die voluminösen Pneus zu übernehmen, beim Alltagsvelo waren sie erste Wahl. Und bei Kinder- und Jugendrädern gehörten sie nachgerade zur Pflichtausstattung – gut zu sehen am Modell, das Pony Hütchen in Erich Kästners „Emil und die Detektive“ fuhr (auf der berühmten Illustration von Walter Trier). Doch im Laufe der Jahrzehnte gerieten die ausladenden Reifen mehr und mehr in Vergessenheit. Sie erlebten zwar durch das MTB eine Auferstehung in modifizierter Gestalt, am Stadt- und Trekkingrad wollte man jedoch dünnere sehen, 28 bis 40 Millimeter breit. Das galt bis vor kurzem.
Bis Ralf Bohle („Schwalbe“) seinen „Big Apple“ in die Welt rollte, 50 und gar 60 Millimeter breit. Auflagefläche: mehr als 40 Quadratzentimeter, doppelt so viel wie beim Standardreifen. Mit dem dicken Ding, erzählt der Hersteller, könne man ohne weiteres auf die Federungselemente verzichten: Es dämpfe „die Stöße fast so gut wie ein voll gefedertes Fahrrad“. Wie passend, dass gleich die Sporthochschule Köln, die schon häufig das Hohe Lied aufs „echte“ gefederte Bike gesungen hat, Bohles neues Produkt in Augenschein genommen hat. Um ihm – laut Hersteller – immerhin „einen ähnlichen Federungskomfort wie der Vollfederung am Fahrrad“ zu bescheinigen. Im Hause der Utopia Velo GmbH, des Aufklärers unter den deutschen Fahrradproduzenten, wird zwar etwas relativierter formuliert, aber mit Lob auch nicht gespart: „Mit einem ausgefeilten Full-Suspension-Bike kann und will der ‚Big Apple‘ nicht konkurrieren. Allerdings schafft er die Möglichkeit, mit wenig Aufwand das Radfahren komfortabler zu machen.“
Wem so viel Gutes widerfährt, dem dürfte es überhaupt nicht schwer fallen, einen neuen Trend zu kreieren. Tatsächlich: Ein paar Experten – die, die jedes neue Produkt sofort zur Innovation erklären – haben gerade die „Saison der Ballonbikes“ ausgerufen. Und in Leipzig wird am 17. Juni die erste Ballonbike-Rallye gestartet. Wobei das neue Etikett recht unterschiedlichen Fahrrädern aufgeklebt werden könnte: sowohl den robusten City- und Tourenräder von Utopia als auch dem „Potsdam“, einem Allrounder aus dem Hause Patria, aber auch Falträdern, Trekkingrädern, Cruisern, Jugend- und Seniorenrädern. Sobald „Big Apple“ aufgezogen ist, handelt es sich genau genommen schon um eines der topmodernen Ballonbikes. Sicher, nicht in jede Gabel, auf jede Felge und unter jedes Schutzblech passt der fette Gummi. Andererseits umfasst die Ballonvielfalt auch Modelle mit herkömmlichen Federungselementen. Doppelt federt’s halt noch besser, denken anscheinend etliche Fahrradhersteller und pfeifen auf das, was die Wissenschaftler zu Köln so meinen.
Auf alle Fälle ist jedes Ballonbike auf verhältnismäßig wenig Luftdruck angewiesen. Seine Reifen sind bereits mit 2 Bar ordentlich bedient, allenfalls kann noch ein bisschen mehr reingepumpt werden. Schmalere Reifen hingegen verlangen nach 3,5 Bar und nach noch viel mehr. Da taucht natürlich die Frage auf, ob derartig gedämpfte Reifen nicht schon an Plattfüßigkeit grenzen, das Fahrverhalten schwammig und den Lauf schwerer machen. Nichts davon treffe zu, behaupten die Fachleute und verweisen darauf, dass die heutigen Ballonreifen nun mal anders gearbeitet sind und zudem aus Materialien bestehen, die zu Pony Hütchens Zeiten unbekannt waren. So sei bei einem Luftdruck von 2 Bar der Rollwiderstand eines „Big Apple“ „nicht höher als bei der üblichen 37-Millimeter-Bereifung mit 4 Bar“, heißt es im Utopia-„RadRatgeber“. Und die Pannenschutzeinlage aus einem Kevlar-Gemisch gab’s in der ersten Hochzeit der Ballonreifen natürlich auch noch nicht.