berliner szenen: Böllerwurf und Babyschrei
Es ist ein ungewöhnlich lauer Abend. Ich bin mit vier Personen, die ich seit fünf Minuten kenne, vor einem linken Treffpunkt auf der Sonnenallee, es gibt Küfa, die Gelder werden an Erdbebenopfer in Marokko gespendet. Es ist viel zu viel Essen da. Mit einem Spätiwein sitzen wir auf einer Bierbank und reden über unverfängliche Dinge, als plötzlich ein lauter Knall unser Gespräch unterbricht. Erschrocken halten wir inne. War das ein Schuss? Wohl doch nur ein Silvesterböller. Typisch Sonnenallee, denke ich noch. Nach der kurzen Irritation führen wir das Gespräch weiter.
Plötzlich kommt ein Mann mittleren Alters auf uns zu und fragt nach einem Feuerzeug. Er wirkt getrieben. Ich reagiere nicht, aber die Person neben mir gibt ihm ein Feuerzeug. Beherzt schnappt er es sich und läuft zielstrebig damit an den Rand des Bürgersteigs. Erst viel zu spät sehen wir, was er plant: Er hat einen Böller in der Hand. „Nein! Nicht!“, rufen wir noch. Und die Leute am Tisch nebenan rufen auch: „Stopp! Hier ist ein Baby!“ Doch der Mann lässt sich nicht beirren, unklar, ob er uns nicht versteht oder nicht hören will. Er nimmt das Feuerzeug, zündet den Böller an, holt aus und wirft ihn mitten auf die gegenüberliegende Straße. Der laute Knall zerschneidet die Szenerie, das Baby beginnt zu schreien. Seelenruhig kommt der Mann zurück und gibt das Feuer wieder.
Ich springe auf: „Was ist denn los mit dir“, rufe ich. „Warum machst du das! Dort ist ein Baby!“ Ich schaue ihm direkt in die Augen und zeige auf den Nebentisch. Er blickt zurück und ich erkenne einen wachen Moment der Reue in seinem Gesicht. Er geht zu der Mutter mit dem Baby und fragt, ob alles in Ordnung ist. Sie wehrt ihn ab, er soll einfach weitergehen. Dann läuft er auf wackligen Beinen davon. Wir bleiben fassungslos zurück. Der Rauch des Böllers hat sich noch nicht verzogen.
Julia Tautz
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