: Und tanz den Globalismus!
Mit Ed Wubbes Doppelabend „Holland“ und „Le Chat Noir“ zeigt das Theater Osnabrück universelles und zeitloses Ballett, das gleichwohl durch Lokalkolorit und gegenwärtige Choreografie beeindruckt
Von Harff-Peter Schönherr
Tanztheater-Abende, die mehrere Produktionen zeigen, sind oft ein Risiko. Was, wenn die Choreografien nicht zueinander passen? Was, wenn schon nach der ersten die Luft raus ist, beim Publikum wie bei den Akteuren?
Bei Ed Wubbes Doppelabend „Holland“/„Le Chat Noir“ im Theater Osnabrück passiert all das nicht. Der Niederländer, künstlerischer Leiter des Scapino Ballets in Rotterdam, emulgiert seine beiden Choreografien für die Dance Company seines Gastgeberhauses so parallelenreich, dass sie fast wie eine einzige wirken.
Dass es in „Holland“ um Wubbes Heimat geht, Tulpenmanie und Altmeistermalerei inklusive, und in „Le Chat Noir“ um das Paris des Fin de Siècle, um die Montmartre-Bohème und das Cancan-Varieté, um die Vorboten des Ersten Weltkriegs, ändert daran nichts. Bewegungssprache, Bühnenbild, Kostüme und Lichtregie ähneln einander stark. Hier wie dort dominieren Dunkelheiten und Symbolismen, leere Räume und die Nichtfarben Schwarz und Weiß.
Homogen wirkt das, wie eine Symbiose, und dennoch behalten beide Produktionen ihr eigenes Profil. Feinnervig konfrontiert uns Wubbes Doppelabend mit zwei Antworten auf die Frage, was den Menschen im Innersten antreibt, als Individuum wie als Kollektiv. Beide Antworten sind abgründig, voller Härten und Hoffnungen.
In „Holland“ senkt sich am Ende eine riesige Kugel auf die Bühne herab, wie ein Himmelskörper, wie ein Globus, beginnt zu schwingen, Blumenkelche bilden seine Oberfläche. Ein Verweis auf den kolonialistischen Welthandel. Ja, sie dreht sich, die Erde, sagt uns dieses Pendel zugleich. Ja, wir haben Zukunft. Und es liegt an uns, sie mit Mitmenschlichkeit zu füllen.
Von den Figuren geht religiöse, bürgerliche Strenge aus, Kontrolliertheit. Doch dann beginnt es: Ihre scharf linearen, abgezirkelten Bewegungen werden spastisch und wild, weich und ekstatisch. Emotion bricht auf, Sehnsucht nach Nähe. Donnerschläge dröhnen, qualvolle Stimmen des Grauens bohren sich in unsere Ohren, es grollt eruptiv wie aus berstenden Magmakammern. Treibende Perkussiv-Rhythmen wummern aus den Boxen, metallische Derwisch-Röcke klirren.
Kontraste tun sich auf. Enggliedriges steht neben Raumgreifendem, Ernst neben Komödiantik, Blitzhaftes neben Gedehntem. Auch in „Le Chat Noir“ ist das so. Das Ensemble leistet Eindrucksvolles, tanztechnisch und schauspielerisch. Und es leistet Kollektivarbeit, so sehr Esaúl Llopis Castelló, Ambre Twardowski und Luigi Imperato in ihren Solopartien auch glänzen. Einige Tanzende tragen Turbane, denn von „Tülbent“, dem türkischen Wort dafür, stammt „Tulpen“ ab. Wer sich mit Hollands historischen Orient-Beziehungen nicht auskennt, erhält im Programmleporello Nachhilfe. Aber eigentlich ist das überflüssig: Was Wubbe verhandelt, ist so zeitlos wie universell.
Das gilt auch für „Le Chat Noir“, elegisch untermalt von Édith Piaf und Jacques Brel. Auch dass es auf dem Montmartre einst wirklich ein Kabarett „Le Chat Noir“ gab und Théophile-Alexandre Steinlen für dessen Hauszeitschrift seine berühmte schwarze Katze malte, ist im Grunde unnötiges Wissen. Es geht um den Menschen an sich.
Imposant ist das Lokalkolorit, besonders im Cancan zum Schluss von „Le Chat Noir“: Schnee stiebt, der fast aussieht wie Blütenblätter. Er fällt vom Schnürboden, wirbelt um die Füße. Witzigerweise sinkt schon weit vorher unabsichtlich eine einzelne dieser Flocken zu Boden. Die Scheinwerfer erfassen sie kurz. Wer sie zu deuten versucht, als Leichtigkeit des Seins oder Verheißung von Reinheit, zweifelt schnell, ob das einen Sinn hat. Auch die Nebelmaschine erzeugt Irritationen. Ab und zu bläst sie in kleinen Wölkchen Nachschub auf die Bühne, was unfreiwillig lustig aussieht.
Das macht aber nichts, denn der Gesamteindruck ist stimmig und stark. Wubbe konfrontiert uns feinnervig mit Hoffnungsverheißungen und Schmerzverzweiflungen, mit Augenblicken der Melancholie und des Glücks, der Kälte und der Innigkeit, der Trauer und des Hungers nach Leben.
Hoch energetisch ist das alles, hoch konzentriert. Das Publikum sieht Präzision, Bewusstheit, Doppelbödigkeit. Gut, der Sinn manch schemenhafter Großprojektion erschließt sich nicht. Aber das ist eine Marginalie. Was in Erinnerung bleibt, ist stark. Auch der extreme Followspot zählt dazu, der zuweilen jäh Figuren aus dem Dunkel stanzt, in gleißendem Weiß.
Tanztheater: „Holland“/„Le Chat Noir“, 19., 21., 23. und 27. 1., Theater Osnabrück, Theater am Domhof, jeweils 19.30 Uhr
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