„So viele Ping-Pong-Momente“
Ob im Theater, als Film oder Hörspiel: In ihren künstlerischen Projekten versucht die Werkgruppe2 soziale Wirklichkeit zu beschreiben – aus der Perspektive von Menschen, die sonst kaum im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Ein Gespräch mit Regisseurin Julia Roesler, Komponistin und Musikerin Insa Rudolph und Dramaturgin Silke Merzhäuser
Interview Katrin Ullmann
taz: Silke Merzhäuser, Julia Roesler, wir treffen uns gerade per Videokonferenz. Arbeitet und lebt ihr gar nicht in derselben Stadt?
Silke Merzhäuser: Nein. Daher ist Zoom tatsächlich unser Haupt-Arbeitsmittel. Julia lebt in der Nähe von Göttingen, Insa in Frankfurt, und ich lebe in Hannover.
Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit?
Julia Roesler: Ich habe in Hildesheim studiert und am Ende des Studiums 2006 habe ich mit Insa die Werkgruppe2 gegründet und drei Jahre lang erste Produktionen gemacht. 2009 gab es die dokumentarische Produktion „Friedland“, die als Kooperation mit dem Deutschen Theater in Göttingen entstanden ist, bei der Silke mit dazugekommen ist.
Merzhäuser: Darin ging es um das Grenzdurchgangslager in Friedland. Wir haben Interviews mit Menschen geführt, die temporär in diesem Lager gelebt haben. Das waren bei der Gründung Ende der 40er-Jahre deutsche Kriegsheimkehrer*innen, später aber auch Geflüchtete aus Afghanistan oder Boat People aus Vietnam.
Der Ausgangspunkt für das dokumentarische Arbeiten, wie es die Werkgruppe2 bis heute prägt?
Merzhäuser: Ja. Wir haben damals viele Interviews geführt und festgestellt, dass die Art, wie die Menschen sprechen mit ihren jeweiligen Akzenten und Dialekten, mit dem wenigen Deutsch, das sie zur Verfügung haben, dass das auch ganz charakteristisch ist für ihre Lebensgeschichte. Dass also die Art, wie gesprochen wird, mit welchem Vokabular und auch mit welchen sprachlichen Hürden, eng mit den Inhalten verknüpft ist.
Ihr recherchiert lange, arbeitet Interview-basiert … ihr hättet eigentlich auch Journalistinnen werden können.
Roesler: Damit wären wir vielleicht auch glücklich geworden. Aber durch ein künstlerisches Medium eröffnen sich neue Möglichkeiten und Zugriffe. Und eine andere Pointierung und Zuspitzung. Es gab eine für uns wichtige Tagung 2014 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin mit dem Titel „Krieg erzählen“, kuratiert von Carolin Emcke. Zentrales Thema war auch die Krise des Journalismus. Und der Eindruck, dass Journalist*innen versuchen, sich künstlerische Formate anzueignen, weil sie merken, in der Fülle der zur Verfügung stehenden Informationen ist es schwierig, überhaupt noch ein Publikum zu finden für die schweren Themen und Nachrichten. Und dass immer wieder die Zusammenarbeit mit Künstler*innen gesucht wird, um eine emphatische Anbindung zwischen Leser*innenschaft und Thema herzustellen. Das war eine Bestätigung für uns, weil wir gemerkt haben, das ist genau die Verknüpfung, an der wir arbeiten.
Ihr beschäftigt euch immer wieder mit Randfiguren, die sonst eher keine Bühne bekommen: Zimmermädchen, polnische Pflegekräfte, eine Nicht-Normgewichtige.
Merzhäuser: Themen begegnen uns laufend, es ist eher ein sorgfältiges Sortieren und Befragen: Welche Themen stellen uns wirklich vor ungelöste Fragen? Meist Fragen nach Gerechtigkeit, wo es uns schwer fällt, Haltung zu beziehen.
Wie und wann kommt die Musik ins Spiel, Insa Rudolph?
Insa Rudolph: Bei unseren Projekten wird die musikalische Ebene sehr früh mitgedacht, die Recherche umfasst auch Fragen wie: Welche Rolle spielt Musik für ein Thema und die Menschen, die wir interviewen? Wie klingen ihre Lebens- oder Arbeitswelten? Oft ergeben sich daraus erste konzeptionelle Ideen für die künstlerische Umsetzung. Bei „Friedland“ haben wir unter anderem mit Radios, alten Ton-Aufnahmen und sogar Original-Kassetten gearbeitet, die die Schauspieler*innen während der Aufführung be- und abgespielt haben. Eine Art Klanginstallation des Erinnerns.
Wie entsteht die jeweilige Klangwelt?
Rudolph: Mal arbeite ich mit Vor-Ort-Aufnahmen wie zum Beispiel beim Hörspiel „Bitte nicht stören“: Da bin ich durch Hotels gelaufen, habe Reinigungskräfte bei der Arbeit begleitet und Geräusche gesammelt, aus denen musikalische Miniaturen und Patterns entstanden sind. Manchmal sind Bilder, Geschichten oder Sätze Inspirationsquelle für Kompositionen. Und natürlich liegt auch in der Sprache selbst, wie wir sie transkribieren und auf die Bühne bringen – mit Pausen, Stocken, Lücken – eine Form von Musikalität.
Roesler: Ein konkretes Beispiel: Im Frühjahr dieses Jahres haben wir am Theater Oberhausen mit „§218“ ein Projekt über Schwangerschaftsabbrüche von 1945 bis heute entwickelt. Dazu haben wir auch Frauen in einem Seniorenheim interviewt. Während der Gespräche haben wir bemerkt, dass eine große Sprachlosigkeit herrscht und nur in Floskeln gesprochen wird. Diese Frauen waren nicht geübt darin, über diese tabuisierten Themen zu sprechen. Die Gespräche gaben narrativ fast gar nichts her, aber Insa hat genau daraus eine sehr feine Komposition geschrieben.
Rudolph: Die bestand nur aus Sätzen wie „Was willste machen?“, „Es war halt so …“ und „Es war halt ’ne andere Zeit“.
Eure nächste Arbeit „Hier spricht die Polizei“ ist eine Kooperation mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Staatstheater Hannover. Wie kamt ihr auf das Thema?
Merzhäuser: Ich war zu einer Diskussionsveranstaltung mit dem Titel „Solidarität“ eingeladen, zusammen mit Anja Weber, der nordrhein-westfälischen DGB-Vorsitzenden. Die hat sehr eindrücklich geschildert, in welch ambivalente Situationen Polizist*innen geraten können, wenn sie im Hambacher Forst eingesetzt werden und selbst Kohleabbau ökologisch für wenig sinnvoll halten. Ich habe gemerkt, dass mich diese Aussagen in meiner grundsätzlichen Polizeikritik sehr gefordert haben. Dass auch ich Stereotype über Polizist*innen pflege und es mir schwer fiel zu benennen, wie die Vision einer „guten“ Polizei aussehen könnte.
Premiere ist erst Mitte Mai bei den Ruhrfestspielen – ein üblich langer Vorlauf?
Silke Merzhäuserstudierte Politische Wissenschaft, Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie. Seit 2009 ist sie Dramaturgin bei der Werkgruppe2.
Roesler: In der Regel recherchieren wir fast ein Jahr lang. In diesem Fall war die Räumung des besetzten Dorfes Lützerath unser Auftakt, den wir auf Polizei-Seite begleitet haben und im Anschluss Interviews geführt. Die Grundannahme ist, dass wir den Menschen, die wir interviewen, mit einem emphatischen Blick begegnen wollen. Bei dem Polizei-Thema gab es eine starke Ambivalenz. Auch hier versuchen wir, offen in die Interviews zu starten, aber vielleicht mehr als bei anderen Themen auch kritisch nachzufragen.
Merzhäuser: Wir arbeiten immer mono-perspektivisch. Das heißt, wir interviewen nur Polizist*innen und nicht, wie es vielleicht auch möglich wäre, Demonstrant*innen.
Das Publikum wird damit konfrontiert …
Merzhäuser: … und muss sich selbst viel stärker positionieren und fragen: „Was würde ich erwidern?“
Basierend auf den Interviews entsteht eine Stückfassung, die dann professionelle Schauspieler*innen sprechen – bei „Hier spricht die Polizei“ sind das Ensemblemitglieder des Schauspiels Hannover.
Roesler:Die Stückfassung, mit der wir starten, beinhaltet möglichst genau die transkribierte mündliche Sprache mit jedem Versprecher und jeder Auslassung. Um das wirklich zu begreifen, ist es gut, sich die Interviews anzuhören, um Sprache, Gestus, Duktus genauer kennenzulernen. Die Schauspieler*innen werden zu Stellvertreter*innen der Interviewten.
Wann entscheidet ihr, ob aus einer Recherche ein Bühnenstück wird, ein Film oder ein Hörspiel?
Roesler: Wir haben gemerkt, dass der Recherche-Aufwand einerseits sehr groß ist und sich Themen mit einer Theaterinszenierung manchmal nicht fertig erzählt angefühlt haben. Unser erster Kurzfilm „Marina“ war als offenes Experiment gedacht, auf das wir sehr viel positive Resonanz bekommen haben. Manches ist in einem anderem Medium auch einfacher. Es gibt keine Dokumentartheater-Tradition wie es eine Dokumentarfilm-Tradition gibt. Fragen nach Abbildung von Wirklichkeit stellen sich im Medium Film viel zwingender als im Theater, wo per se repräsentiert wird.
Julia Roesler studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis. Das Gründungsmitglied der Werkgruppe 2 führt dort Regie bei Theater- und Filmproduktionen.
Merzhäuser: Nachdem wir angefangen hatten, auch Hörspiele und Filme zu machen, haben wir die spezifische Qualität von Theater wieder besser verstanden. Fragen wie: Wer wird das Stück sehen, an welchem Ort und welche Geschichten sind für diese Menschen an diesem Ort wichtig? Das Publikum ist im Theater oft viel konkreter vorstellbar. Darin sehen wir momentan eine große Chance.
Was unterscheidet euch von einer Dokumentartheatergruppe wie Rimini-Protokoll?
Merzhäuser: Wir sind oft gefragt worden, warum wir nicht die Menschen, die wir interviewt haben, auf die Bühne stellen. Das hat verschiedene Gründe: Wir arbeiten sehr musikalisch, das bedingt oft die Arbeit mit professionellen Musiker*innen. Auch sind manche Themen so intim, gerade wenn es um Traumatisierungen geht, dass die Stellvertretung durch eine professionelle Schauspieler*in die einzige Möglichkeit ist, eine Geschichte zu erzählen. Was bei Rimini-Protokoll die „dokumentarische Beglaubigung“ durch die Lai*innen ist, ist bei uns vielleicht die mündliche Sprache.
Was sollen eure Arbeiten erreichen?
Roesler: Es geht uns um eine Fokusverschiebung. Aber es geht nicht nur darum, unterrepräsentierten Menschen eine Stimme zu geben, sondern auch auszuloten, wie ist mein Verhältnis zu diesen Menschen? Was geht mich deren Lebensrealität an?
Fokusverschiebung, damit ein Nachdenken über bestimmte Themen überhaupt Raum erhält?
Insa Rudolph studierte Jazz-Gesang in Amsterdam. Bei der Werkgruppe2 verantwortet das Gründungsmitglied Komposition und musikalische Leitung.
Merzhäuser: Genau. Einen Platz in unseren Köpfen, aber eben auch in größeren Resonanzräumen.
Was bedeutet da die Arbeit als Kollektiv?
Merzhäuser: Gemeinsam fühlt man sich immer ein bisschen klüger …
Roesler: … und diese Sicherheit, die wir dadurch haben. Gerade in schwierigen Situationen sind die Kolleginnen immer da und wir können gemeinsam auf der Basis sehr großen Vertrauens nach der bestmöglichen Lösung suchen. Das hilft auch bei Verhandlungen mit Kooperationspartnern.
Rudolph: Für mich ist es auch ein künstlerisches Probierfeld. Und zwar ein geschütztes. Wir entscheiden und stoßen viel gemeinsam an. Irgendwann geht dann jede wieder in ihre Kernkompetenz zurück. Aber alleine hätte ich nie so viele Ping-Pong-Momente, thematische Anknüpfungspunkte und künstlerische Anstöße wie in dieser Zusammenarbeit.
www.werkgruppe2.de