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Kunst ist keine Einbahnstraße

Anna Witt macht Kunst, die Gesellschaft gestaltet: Der Kunstverein Wolfsburg zeigt ihre Videos. Entstanden sind sie teils in der japanischen Arbeitswelt, teils in Kooperation mit Berufsschülern und mit Jugendlichen aus dem ärmsten Stadtteil von Bremen

Von Bettina Maria Brosowsky

„Geld zu finden“ lautete der Titel einer frühen Videoarbeit von Anna Witt, damals noch Kunststudentin, die sie 2003 in der Galerie an der Akademie der Bildenden Künste in München zeigte. Es ging dabei um die schiere Gier: Witt ließ in einer kurzen Aktion eine Handvoll Menschen eine Wohnung totalverwüsten, nur weil dort ein paar versteckte Geldscheine auf glückliche Fin­de­r:in­nen warteten. Justin Hoffmann, zu der Zeit im Süddeutschen tätig, ab 2004 dann Direktor des Wolfsburger Kunstvereins, fiel diese Arbeit auf, und so war es nur eine Frage der Zeit, wann er sie einmal nach Wolfsburg holen würde.

Anna Witt blieb natürlich auch nicht untätig. Die 1981 in Wasserburg am Inn Geborene wechselte 2005 an die Akademie der Bildenden Künste in Wien, studierte dort performative Bildhauerei, schloss 2008 ihr Studium ab und heimste anschließend diverse internationale Auszeichnungen, Förderungen sowie Residenzprogramme ein. Und sie schuf Dutzende weiterer Videos, in denen es um grundsätzliche Fragen des menschlichen Zusammenseins geht, um Denkmuster oder Routinen, die gemeinsam überwunden werden können, in neuen Ritualen ihre Ausdrucksform finden.

Als Gedanke immer dabei: die Partizipation, und wie künstlich oder besser: künstlerisch geschaffene Situationen überwunden werden können. „Für mich war wichtig, die aktionistische Kapazität der Kunst seit den 1990er-Jahren dort anzusetzen, wo sich die Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft vermischen“, benannte sie 2011 in einem Interview ihre Methode. Ihr Erstlingsvideo reinszenierte sie dann auch 2012 in einem Moskauer Museum – unter heutigen politischen Bedingungen absolut undenkbar. Zuverlässig gingen die eingeladenen Rus­s:in­nen ohne Rücksicht auf Verluste in der Rauminstallation, die einem typisch postsowjetischen Interieur nachempfunden war, zu Werke, auf ihrer Suche nach versteckten 15.000 Rubel, damals umgerechnet etwa 300 Euro. Dieses Video war dann 2014 im Kunstverein Wolfsburg zu sehen, in der Gruppenausstellung „I can‘t control myself“. Sie befasste sich mit ungehemmten Gefühlsentäußerungen, besonders in den zeitgenössischen sozialen Medien.

Derzeit nutzt Anna Witt fast den kompletten Wolfsburger Kunstverein. Nur den kleinen „Raum für Freunde“ bespielt Fotograf Sam Evans mit analogen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von nächtlichen Naturmotiven aus dem sommerlich schwülen Kyoto. Sie sind 2022 während des touristenfreien Lockdowns entstanden. Witts Einzelpräsentation kommt zu einem glücklichen Zeitpunkt, denn Witt ist eine von drei gerade frisch berufenen Stipendiatinnen des Dorothea-Erxleben-Programms der Braunschweiger Kunsthochschule. Deutschlandweit einzigartig, soll jüngeren, bereits anerkannten Künstlerinnen durch eine zweijährige Qualifizierungs- und Lehrtätigkeit der Sprung auf eine Professur ermöglicht werden.

Witt zeigt nun zwei ältere und zwei ganz aktuelle Videos. Von 2014 ist die Arbeit „Sixty minutes smiling“: Eine Gruppe förmlich gekleideter Männer wie Frauen, etwa Mitglieder eines großen Firmenvorstands, steht eine Stunde lang in typischen Posen und mit einem einladenden Werbelächeln, ansonsten aber bewegungslos, vor der Kamera. Witt entlarvt so moderne Marketingstrategien, denn längst wird auch die persönliche Ausstrahlung der Chef:in­nen kommerziell eingesetzt. Ihre Emotionen sind genauso Ware wie ihre Produkte.

2019 erarbeitete Witt mit männlichen Facharbeitern bei Toyota ihr halbstündiges 3-Kanal-Video „Unboxing the future“. In Japan läuft vieles anders als in der deutschen Autoindustrie, etwa in Wolfsburg. Die Automatisierung, auch der Einsatz künstlicher Intelligenz: weit fortgeschritten, Gewerkschaften: Fehlanzeige, dafür versteht sich der Konzern als Firmenfamilie, verantwortlich für seine Arbeiterschaft in allen Lebenslagen. Umso erstaunlicher, wie kritisch sich die Arbeiter äußerten.

Die Jobs werden immer simpler, heißt es etwa, beschränken sich auf einen Knopfdruck. Das wäre zwar nicht inhuman, fühle sich aber öde an. Welchen qualitativen Anteil erbringt dann noch der Mensch? Und: wenn die Arbeit keine sinnstiftende Struktur mehr ins Leben bringt, was könnte an ihre Stelle treten? Die Überlegungen finden symbolischen Ausdruck in einer spontanen Choreographie. Stereotype Handgriffe oder Bewegungen der Arbeit werden zu tänzerischen Sequenzen, von Klängen akustischer Instrumente begleitet. Die individuellen Körperregungen verdichten sich zur kollektiven Aktion und gipfeln schlussendlich darin, sich gegenseitig die anonymisierende, helle Arbeitskleidung vom Leibe zu schneiden – ein mehr als spielerischer Akt der Befreiung.

Die Jobs werden immer simpler, monotoner, stumpf. Was aber tritt an ihre Stelle, wenn Arbeit dem Leben in Zukunft weder Struktur noch Sinn stiften kann?

Eigens für den Wolfsburger Kunstverein hat Anna Witt ein neues Video produziert, Protagonist:innen: Lehrlinge der Klasse für Fach­la­ge­ris­t:in­nen einer lokalen Berufsschule. „Bücken Heben Einlagern“ sind gemäß Titel des Videos die Merkmale dieser Arbeit, also körperliche Anstrengungen in monotoner Wiederholung. In der Praxis werden deshalb vielerorts bereits Exoskelette eingesetzt, technisch unterstützende, prothesenartige Apparaturen, die den Körper ermächtigen, einseitige Belastungen über einen langen Arbeitstag zu meistern. Witt ging mit den Jugendlichen ins leere Becken des ehemaligen Hallenbads, heute ein Veranstaltungsort in Wolfsburg, ließ sie dort mit diesen Hilfen experimentieren, in einer Art mechanischem Ballett.

Auch für ihr weiteres ganz neues Video von 28 Minuten Dauer arbeitete sie mit Jugendlichen, dem Jugendforum aus Gröpelingen. Das ist, positiv formuliert, ein multikultureller, lebendiger und junger Stadtteil in Bremens Westen – der zugleich einwohnerreichste und ärmste der Stadt. Geprägt haben ihn einst die Hafenwirtschaft und die Werften, weshalb sich dort viele Ar­beits­mi­gran­t:in­nen angesiedelt haben. Für die Jugendlichen, die dritte Generation mit internationaler Familiengeschichte, erweist der Stadtteil sich allerdings als schwieriger Ort. „Welche Flagge kann uns repräsentieren?“ fragen sie, während anhand historischer Fotos die türkische schon mal ausgeschieden wird.

Ausstellung: „Workers Forum“, Anne Witt, Kunstverein Wolfsburg, Mi–Fr, 10–17 Uhr, Sa, 13–18 Uhr, So und an Feiertagen, 11–18 Uhr. Bis 4. 2.

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