Zwangsverheiratung: Keine Frage der Ehre

HILFE Der Lesben- und Schwulenverband berät Migranten, die wegen ihrer Sexualität in Not sind

Zwangsverheiratung werde zum Teil angedroht, um Homosexualität zu „heilen“

Fast alle Ratsuchenden, die zu ihr kommen, seien Männer, erzählt So-Rim Jung. Die Psychologin leitet die Beratungsstelle für schwule und lesbische Migranten beim Lesben- und Schwulenverband. „Die Männer stammen in der Regel aus türkischen und arabischen Familien. Sie kommen mit ganz unterschiedlichen Anliegen“, sagte sie am Dienstagabend auf der Veranstaltung „Zwangsverheiratung von Homosexuellen – Eine Frage der Ehre?“ des Lesben- und Schwulenverbandes.

Manche seien sehr selbstbewusst und wollten einfach nur reden. Viele aber stünden vor der Frage: „Soll ich vor meiner Familie weglaufen und in eine andere deutsche Stadt ziehen – oder soll ich zum Schein eine Frau heiraten, um nicht von der Familie verstoßen zu werden?“

Krisenwohnungen fehlen

Einige Migranten, sagte So-Rim Jung, würden in großer Not sein und Schutz vor Zwangsehen suchen. Zwangsverheiratung werde zum Teil auch aus der Überlegung heraus angedroht, die Homosexualität zu „heilen“ und die Familienehre zu retten. Für diese Männer jedoch, die in schweren psychischen Notlagen stecken, fehlen in Berlin Krisenwohnungen, so der Verband. Derlei Wohnungen seien auf Frauen und Jugendliche ausgerichtet und nicht auf Männer um die 30.

Zum Beispiel der 31 Jahre alte Murat, ein Berliner mit türkischem Migrationshintergrund: Er wurde auf Druck seiner Familie mit einer Frau verheiratet. Auf die Ehe reagierte er mit Anpassungsstörungen und Panikattacken. Es folgten ein Zwangsouting vor der Ehefrau und die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Danach floh er aus seinem privaten Netzwerk, ist nun obdachlos und – weil seine Familie ihn auf der Arbeitsstelle finden könnte – auch arbeitslos. Murat, so beschreibt es der Verband, ist nun zudem hoch verschuldet, weil er die Hochzeitskosten und die Miete für die eheliche Wohnung am Hals hat.

Auch für Frauen ist die Situation nicht immer einfach. „Ich frage mich, warum lesbische Frauen unsere Hilfsangebote nicht nutzen“, sagt jedoch So-Rim Jung. Eva Kultus leitet eine Zufluchtswohnung für von Zwangsverheiratung bedrohten Frauen und hat eine Antwort: „Von Zwangsehen bedrohte Mädchen sind sehr jung, zwischen 13 und 21.“ Deren sexuelle Identität sei noch nicht entwickelt, sie werde durch die Familien bewusst unterdrückt. „Die Mädchen sollen ja vor der Ehe nicht sexuell aktiv werden, das wäre eine Schande.“

Oft sei die angedrohte Zwangsheirat nur der Anlass fürs Weglaufen, nicht die Ursache. „Die Mädchen haben in der Kindheit zum Teil massive Gewalt erlebt“, sagt Kultus. „Und wenn ich Gewalt sage, meine ich nicht Ohrfeigen.“ Die Neigung jedoch, ihre Eltern deshalb oder wegen drohender Zwangsehe anzuzeigen, hätten weder betroffene Frauen noch Männer, weder homosexuelle noch heterogene Betroffene. Eva Kultus: „Sie denken, mit dem Weglaufen hätten sie ihrer Familie schon genug Schande angetan.“ MARINA MAI