: Auf nach Nimmerland!
Die Stückentwicklung „Nimmerland“ erfindet im Jungen Schauspielhaus Hamburg Peter Pans Insel als Ort der Freiheit neu – und legt so den utopischen Gehalt von Theater frei
Von Jens Fischer
Nimmerland steht als Utopie der Infantilen – nicht so hoch im Kurs von Wissenschaft, Pädagogik und Kunst, die einen selbstbewussten Umgang mit dem Größer- und Älterwerden ermöglichen, also verhindern möchten, dass Kinder gedächtnisfaul und planlos heranwachsen, weil ihr Geist weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft reicht. In „Nimmerland“, der Stückentwicklung von Brigitte Dethier und dem Ensemble für ein Publikum „8+“ am Jungen Schauspielhaus Hamburg, ist die Trauminsel des Schriftstellers J. M. Barrie vor allem ein Sehnsuchtsort der Freiheit.
Eigene Fantasien ausprobieren, mit Identitäten spielen: Hier ist es möglich, das wird auf der Bühne vorgelebt. Nimmerland ist also das Theater selbst. Dethier feiert sowohl die Möglichkeiten der Bühnenkunst als auch die Versuche der ähnlich verwundbar offenen Kinder, mit laut bekundeten sowie leise erkundeten Sehnsüchten umzugehen und dabei den Drang zur Selbstentfaltung auszuleben.
Um Aufmerksamkeit zu generieren, lässt die Regie anfangs behaupten, niemand sei für die angesagte Aufführung vorbereitet. Aus der Verlegenheit heraus erklärt der Abendspielleiter (Hermann Book), was Arbeitslicht und Black bedeutet. Später ist zu sehen, wie sekundenschnell Lichtstimmungen gewechselt werden können. Die verdutzte Bühnenmeisterin (Alicja Rosinski) greift zur Kasperle-Theater-Animation des Publikums – „Was macht ihr denn hier?“ – und berichtet von ihrer Hubbühne herab von den Arbeitsabläufen vor der Premiere.
Jara Bihler plaudert als eine Schauspielerin aus dem Nähkästchen, mit PR-Phrasen versucht der Intendant, gespielt von Nico-Alexander Wilhelm, die Situation zu meistern. Die Feuerwehr (Christine Ochsenhofer) will derweil mögliche Brandherde besprechen, bemängelt einen herabstürzenden Scheinwerfer und einen dampfenden Mülleimer. Löschend schwebt poesiewillig ein wasserblaues Tuch herab und aus dem Feuerlöscher schießt Glitzerflitter. Deren Folgen hat eine Reinigungskraft (Severin Mauchle) zu beseitigen. Sie nutzt die Gunst des Auftritts, strahlend von ihrer Begeisterung für die Peter-Pan-Geschichte zu erzählen. Fee Tinkerbell lässt sie mit einem Gummihandschuh lebendig werden und verkörpert alle Nimmerland-Kinder mal eben schnell selbst. Während ein Engel mit Flügeln in Ohrengestalt (Jazz-Schlagzeugerin Lisa Wilhelm) an Perkussionsinstrumenten sowie Klaviersaiten das Geschehen rhythmisch befeuert und klanglich untermalt.
So haben wir eine Geschichte, Musik und eine zunehmend zu Nimmerland werdende Bühne, wo alles möglich scheint. Eine wunderbare Einführung in die Magie der Bühnenkunst ist zu erleben – und die Lust, dabei die Lebenswirklichkeit der Besucher zu spiegeln. Das Ensemble bringt en passant Bedürfnisse junger Menschen zu Gehör, etwa: machen zu können, was und mit wem man will, und sich keine Sorgen machen müssen, wie andere darüber denken. In einem spaßprallen Nimmerland, heißt es, sollte nichts peinlich und das Leben einsamkeits- und angstfrei sein sowie immer genug Aufmerksamkeit für jeden aufgebracht werden.
Aus solchen Haltungen und Handlungen formt Dethier das Leitmotiv der Produktion: Man müsse nicht eskapistisch auf Kindlichkeit beharren, um wie Peter Pan abheben zu können, es brauche nur einen guten Gedanken, der einen zum Fliegen bringt – und dabei vielleicht etwas tief im Inneren berührt, sodass ein inspirierender Puzzlestein zur Ich-Entfaltung gefunden ist. In diesem Flirren zwischen Abschied und Ankunft bestärkt die Aufführung den Mut, den nächsten Schritt ins Unbekannte zu wagen.
Wie sensibel die Inszenierung auf kindliche Vorstellungen eingeht, das überzeugt genauso wie die liebevolle Präsentation von Theater als Experimentierlabor für Lebensentwürfe – mit dem Ziel, ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Welt der Erwachsenen in eines der Autonomie zu überführen. So ist „Nimmerland“ eine bezaubernd schlaue Produktion.
Abgesagt werden mussten die Dezemberaufführungen. Neue Termine: 17., 18., 22. und 23. 1.,10.30 Uhr, sowie 20. 1., 16 Uhr, Junges Schauspielhaus, Große Bühne, Wiesendamm, Hamburg
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