: Die Simpsons als Haiku
Filigran, unzugänglich und mit lethargischem Hund: die japanische Comic-Familie „Yamada“ (22.45 Uhr, Arte)
Dysfunktionale Kernfamilien der westlichen Welt – ihr seid nicht allein! Selbst im traditionsbewussten Japan teilt man inzwischen eure Idee vom modernen Leben. Zum Beweis treten an: ein erzieherisch unwirksamer Vater, eine Mutter mit chronischer Hysterie, ein monströs pubertierender Sohn, das Töchterchen als Menschwerdung von „Hello Kitty“, die nörgelnde Großmutter und ein lethargischer Hund – kurz: „Familie Yamada“ oder die Übersetzung der Simpsons ins filigran-feminine Universum des Fernen Ostens.
Trotz aller Parallelen zur schrägen US-Serie wirkt der 1999 von den legendären Ghibli-Studios produzierte Anime wunderbar unkonventionell. Regisseur Isao Takahata („Die letzten Glühwürmchen“) verpasste ihm eine bezaubernde Aquarell-Ästhetik – und verzichtete auf eine durchgehende Erzählstruktur. Stattdessen beschreibt der Film in neun Episoden den ganz normalen Wahnsinn einer Vorstadtfamilie und bleibt gerade dadurch ganz nah an seinem Ursprung: den vierbildrigen Comic-Strips von Hisaichi Ishii aus der japanischen Zeitung Asahi Shimbun.
Die Cleverness des Films aber zeigt sich spätestens in der Episode über den ersten Schnee des Jahres. Als der Vater ihn bemerkt und seine Familie zur Erinnerung damit fotografieren möchte, reagiert sie nicht. Der Grund: Sie sehen sich gerade im Fernsehen einen Schneesturm an. Lustig, traurig und unglaublich weise verbirgt sich hinter all den zuckersüßen Alltagserzählungen ein philosophischer Rahmen, das das Aufeinandertreffen des alten Japan mit der westlichen Moderne thematisiert und quasi in Haikus presst.
Noch deutlicher wird der Konflikt in der für die japanische Kultur so typischen, für den Westen oft unzugänglichen Symbolwelt. Abseits der pompös-surrealen Rückschau zu Beginn (Gibt es ein Leben vor der Familie?) bleibt vor allem Großmutter Shige mit dem alten Reich der Zeichen verbunden und macht dadurch nur noch deutlicher, dass das, was sie einmal gelernt hat, in der modernen Gesellschaft nicht mehr zählt. Roland Barthes hätte geweint.
Leider bleibt „Familie Yamada“ gerade wegen seiner verborgenen Komplexität irgendwo zwischen Asien und dem Westen stecken. Nur Japanologen und Anime-Dauerschauer werden hinter der Skurrilität die Gründe entdecken, weswegen sich die Familie so verhält, wie sie es nun eben tut. Omas Entfremdung, Vaters Auftritt als Superheld Gekko Kamen, aber auch der elterliche Streit um die Fernbedienung als japanischer Schwertkampf sind nur die sichtbarsten Elemente der Tiefenstruktur. Sehen sollte den Film jeder, ganz verstehen werden wir ihn wohl nie. ALEX MENGER