: Sie ist ganz Stimme
Intensiv und ohne inszenatorischen Firlefanz: Im Radialsystem brachte die britische Sängerin, Performerin und Komponistin Elaine Mitchener ihre Version von Peter Maxwell Davies’ ikonischem „Eight Songs for a Mad King“ auf die Bühne
Von Verena Harzer
Eine Stoffwechselstörung soll es gewesen sein, die König George III. von England zu Beginn des 19. Jahrhunderts wortwörtlich in den Wahnsinn trieb: Mit Schaum vor dem Mund redete er phasenweise ununterbrochen. Zum Teil tagelang. Bis er heiser war. Helfen sollten: Fastenzwang, ätzende Hautwickel, Ausbluten und eiskalte Bäder. Vom bewunderten König zum Gefangenen in seinem eigenen Schloss. Tief fallen kann jeder, überall und jederzeit.
Diesen wahnsinnigen König verkörperte vergangenen Samstag die britische Sängerin, Performerin und Komponistin Elaine Mitchener im Berliner Radialsystem. Sie gab die legendäre Vokal-Partie des Avantgarde-Klassikers „Eight Songs for a Mad King“ von dem ebenfalls britischen Komponisten Peter Maxwell Davies. Die Aufführung kam mit minimalen inszenatorischen Mitteln aus. Der Fokus lag ganz auf der Musik und der Präsenz von Mitchell. Ein echter Glücksfall.
Nicht ohne Grund erfreut sich Davies halbstündiges Monodrama für männliche Singstimme und Kammerensemble seit seiner Uraufführung 1969 anhaltender Popularität. Noch nie zuvor wurde echte, tief gefühlte Verzweiflung so direkt in Musik übersetzt. Alle musikalischen Mittel sind dieser Verzweiflung untergeordnet. Ihr verdankt sich die überbordende musikalische Phantasie der Komposition. Doch diese Verzweiflung braucht auch die richtigen Darsteller*Innen und Musikern*Innen.
Ganze fünf Oktaven umfasst das für eine männliche Stimme geschriebene Stück. Davies hat dafür die bis dahin im Musiktheater übliche Artikulation durch Sprechgesang oder Arien enorm erweitert: Flüstern, Schreien, Kreischen, Blöken, Plärren, Wiehern, Jaulen, Stöhnen, Ächzen – es gibt kaum einen Laut, den die Komposition nicht einfordert. Dazwischen immer wieder kurze harmonische Zitate aus Händels Messias, parodierte altenglische Tänze oder kurz aufblitzende Foxtrott-Rhythmen. Eine musikalische Collage, die einen nicht zur Ruhe kommen lässt.
Elaine Mitcheners bisherige Karriere prädestiniert sie geradezu für dieses Werk. Die klassisch ausgebildete Sängerin hat eine bereits gut fünfzehnjährige Karriere als experimentelle Vokalistin, Improvisatorin, Komponistin und Bewegungskünstlerin vorzuweisen. Dazu kommt ein ausgeprägtes politische Bewusstsein. Ihr ginge es eben nicht um den fast schon akrobatischen Aspekt von „Eight Songs“, sagt sie gegenüber dem britischen Avantgarde-Magazin „The Wire“. Sie interessiert viel mehr der Subtext des Werks.
Für Mitchener, die jamaikanische Wurzeln hat, gehörte “Eight Songs“ während ihrer Ausbildung zum Standard-Avantgarde-Repertoire. Erst Jahre später wurde ihr bewusst, dass ihre Lieblingsaufnahme des Stücks von einem schwarzen Sänger gesungen wurde: Julius Eastman. Auch William Pearson, ein schwarzer Bariton, hat das Stück aufgeführt. Die Tatsache, dass zwei schwarze, und dazu noch schwule US-Amerikaner den König von England gaben, faszinierte Mitchener. Was, wenn sie als schwarze Frau den Part übernimmt?
Von Peter Maxwell Davies konnte sie sich gerade noch die Zustimmung für den Geschlechtertausch einholen, kurz bevor er vor sieben Jahren starb. Laut Mitchener gefiel Davies die Idee sogar. Sie solle einfach eine Oktave höher oder tiefer singen, je nachdem. Überhaupt sind Queerness und Gender Fluidity ein wichtiger Subtext des Stücks. Kein Wunder. Kämpften schließlich sowohl Davies, als auch sein Stück-Librettist Randolph Stow während der Entstehungszeit von „Eight Songs“ mit ihren homosexuellen Identitäten – eine Zeit, in der Schwulsein noch gesellschaftlich geächtet war.
Noch eine andere traumatische Erfahrung prägt das Stück. Davies hat „Eight Songs“ gemeinsam mit dem südafrikanischen Ausnahmesänger Roy Hart entwickelt. Hart wollte schon kurz nach Beginn seiner Karriere in den vierziger Jahren seine Gesangskunst erweitern. Damals stieß er auf das „Voice Research Center“ des deutschen Alfred Wolfsohn. Wolfsohn litt an einem Trauma, das die Schreie seiner sterbenden Soldatenkameraden im Ersten Weltkrieg hinterlassen haben. Um sich davon zu heilen, begann er Klänge jenseits von Sprache und Gesang zu erforschen. Von dieser Methode ließ Hart viel in die Entwicklung der Singstimme von „Eight Songs“ einfließen.
All das erklärt vielleicht die Faszination, die noch heute, gut fünfzig Jahre nach seiner Uraufführung, von „Eight Songs for a Mad King“ ausgeht. Und die Intensität des Stückes, die keinen inszenatorischen Firlefanz braucht, um zu wirken.
Mitchell hat das verstanden. Nur mit einem lila Tank-Top, gelben Shorts und schwarzen Turnschuhen bekleidet, steht sie auf der Bühne des Radialsystems. Sie ist ganz Stimme, ganz Musik, ganz eins mit den brillanten Musikern der MAM. Manufaktur für aktuelle Musik. Sonst nichts.
Die Zerstörung der Geige, die das Stück im 7. Song vorschreibt, ist bei ihr keine groß angelegtes Spektakel. Kühl und herablassend zertritt sie sie, wie eine lästige Kakerlake. Das Ende des Stückes schreibt ihre Vertreibung von der Bühne durch langsame, bedrohliche Trommelschläge vor. Ihr Heulen aus dem Off klingt lange nach. Dann Stille. Und dann: begeisterter Applaus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen