Die Rückkehr zum Rudel

Karlsruhe hat entschieden, dass wir für unsere pflegebedürftigen Eltern nicht mehr mit persönlichem Vermögen haften müssen. Das bedeutet: neue Lebensformen auf dem fernen Planeten des Alters

VON MARTIN REICHERT

Die Eltern tragen ihre Kinder in den Morgen, die Kinder ihre Eltern in den Abend: Sag es treffend und herzerwärmend mit dem „Prophet“ Khalil Gibran. Und vergiss dabei am besten, dass beides „inter faeces et urinam“ vonstatten geht und mit viel Mühe verbunden ist. Es gilt als selbstverständlich, dass man dem eigenen Nachwuchs den Hintern abwischt – aber den eigenen Eltern?

Wer diese Tätigkeit lieber ausgebildeten Pflegekräften in Altenheimen überlässt, muss in Zeiten leerer Kassen allerdings damit rechnen, in Form von so genanntem Elternunterhalt zur Kasse gebeten zu werden. Vereinfacht gesagt: Wer mehr als 1.250 Euro verdient, muss die Hälfte des darüber hinausgehenden Verdienstes abgeben, falls die Rente oder das Vermögen der Eltern nicht für die Pflegekosten reicht. Immer mehr Sozialämter berufen sich auf die gesetzliche Verpflichtung der Kinder zum Elternunterhalt. Das Bundesverfassungsgericht hat den findigen Ämtern nun eine Grenze gesetzt: Erwachsene Kinder haben auch dann ein Recht auf den Aufbau einer uneingeschränkten eigenen Altersvorsorge, wenn sie zum Unterhalt ihrer pflegebedürftigen Eltern verpflichtet sind. Die Kinder müssen nur im Rahmen ihrer eigenen finanziellen Leistungsfähigkeit einspringen. Gut so.

Abbau des Sozialstaates bedeutet in der Lebenswirklichkeit der Bürger eine Rückübertragung von Verantwortung, in der Lebenswirklichkeit der so genannten Sandwichgeneration – also Menschen in den mittleren Jahren zwischen 30 und 50 – könnte sich diese zu einer alles erdrückenden Last entwickeln: Von diesen so genannten „Leistungsträgern“ der Gesellschaft wird erwartet, den eigenen Nachwuchs auf die Beine zu bringen und womöglich auch noch die bettlägerigen Eltern zu versorgen, für die Studiengebühren der Sprösslinge und die Ergotherapie der Alten aufzukommen. Überforderte Leistungsträger können sich dann damit trösten, dass ihnen die Familie das Wichtigste auf Erden ist und sie im Schweiße ihres Angesichts die erodierenden Werte des Abendlandes aufrechterhalten. Willkommen in der Großfamilie: Du bist nichts, die Familie alles.

Die kollektiven Sicherungssysteme des Abendlandes haben erreicht, dass die persönlichen Beziehungen, insbesondere die familiären, von finanziellen Zwängen entlastet wurden. Die Familie hat aufgehört, eine bloße Schutz- und Trutzgemeinschaft zu sein, die sich aus materiellen Erwägungen heraus unter der Führung eines Patriarchen zusammenrottet und ein System bildet, das nach innen altruistisch, nach außen aggressiv auftritt, wie ein Wolfsrudel. Auch wenn Konservative sich noch so sehr nach derart traditionellen Modellen sehnen mögen, sie werden nicht mehr sein. Gott sei Dank.

Die Lebenswirklichkeit der kommenden Sandwichgeneration sieht sowieso ganz anders aus. Im Vergleich zu ihren womöglich demnächst zu pflegenden Eltern haben sie keinen stetig wachsenden Wohlstand zu erwarten und blicken bei verlängerter Lebenserwartung in eine so ungewisse Zukunft, dass eine nicht unerhebliche Zahl auf eine Brothälfte des Sandwiches verzichtet: auf Kinder. Was soll werden mit all den Unverheirateten, Kinderlosen, nicht familiär gebundenen Existenzen?

Die Familie ist tot, es lebe die Familie: auf der Basis von Freiwilligkeit, Liebe und Zweckmäßigkeit. Besser die eigenen Eltern zu Hause pflegen und von deren Rente und dem Pflegegeld leben als von Arbeitslosengeld II, ein fairer Deal für alle Beteiligten. Lieber die eigenen Eltern zu Hause haben und von deren Rente und dem Pflegegeld eine oder mehrere Hilfskräfte auf Geringfügigkeitsbasis und einen mobilen Pflegedienst engagieren, als für die Versorgung im Altenheim draufzuzahlen.

Die Idee von generationsübergreifenden Wohnprojekten und Alterswohngemeinschaften mit fidelen Golden Girls und Silver Boys geistert als Wunschvorstellung schon jetzt durch die Köpfe jener „Leistungsträger“, die gerade erst am Anfang ihres Berufslebens stehen und aufgefordert werden, sich privat um ihre Rente zu kümmern – ein Nachdenken über mögliche Lebensformen im Alter hat eingesetzt, das die Zukunft der eigenen Eltern miteinschließt.

Ohne soziale Sicherungssysteme können diese von hehren Wertvorstellungen und praktischen Interessen geleiteten Familienwünsche nicht umgesetzt werden. Falls also die Union tatsächlich ein Interesse daran hat, familiäre Werte zu restaurieren, müsste sie sich mit aller Macht für den Erhalt des Sozialstaats stark machen – denn der hat es möglich gemacht, seine Familie einfach lieb zu haben.