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Archiv-Artikel

„Die EU muss dieses Nein akzeptieren“

Das Nein zur EU-Verfassung hat viele Gründe. Einer ist von den Politikern selbst verschuldet. Wer alles Gute dem Nationalstaat und alles Üble Brüssel zurechnet, muss sich nicht wundern, wenn die Wähler gegen die EU votieren

taz: Frau Guerot, die Politik scheint nach dem Nein aus Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien ratlos. Es gibt offenbar keinen Plan B …

Ulrike Guerot: … zum Glück.

Warum?

Weil es falsch wäre, wenn die politische Elite, die oft beschimpften Technokraten in Brüssel, nun flugs einen Plan aus der Schublade holen würden, um dieses Nein elegant zu umschiffen. Das wäre das Schlimmste.

Ist das Nein eine historische Zäsur, die zeigt, dass die EU ein Elitenprojekt war, dem der Sprung zum demokratischen Projekt nicht gelingt? Oder ist dies nur einer der üblichen Unfälle auf dem Weg zu einem demokratischen Bundesstaat EU?

Es war kein Unfall, es war eine Zäsur. Und zwar weil die Frage nun leider wieder lautet, ob wir die politische Integration wollen – und nicht, wie wir sie verwirklichen. Trotzdem wäre es falsch, die Verfassung irgendwie doch zu verabschieden. Wir brauchen einen kreativen Neubeginn – das bedeutet erst mal, dieses Nein zu analysieren, und nicht, administrativ zu korrigieren.

Und was ergibt die Analyse? Offenbar zielte das Nein auf die Erweiterung der EU gen Osten bzw. den Beitritt der Türkei. Lautet die Konsequenz also: weniger und langsamer?

Stimmt, die Erweiterung hat Ängste mobilisiert. Aber das Nein hatte viel mehr und auch sehr widersprüchliche Gründe. In Frankreich gab es es ein souveränistisches Nein, ein soziales Nein und ein Nein gegen die Türkei. Das soziale Nein richtet sich aber keineswegs gegen die Verfassung an sich. In den Niederlanden spielte offenbar die Identitätsfrage eine Rolle. Es ist fraglich, ob es dieses Nein ohne den Mord an Theo van Gogh gegeben hätte.

Trotzdem scheint nun die Frage anzustehen, ob die EU ein politischer Staatenbund wird – oder, wie es die Briten wollen, nur ein Wirtschaftsraum. Ist die Idee eines Wirtschaftsraums ohne politische Integration realistisch?

Nein. Auch der Vertrag von Nizza, der nun weiterhin gilt, ist ja ein politischer Vertrag. Er ist nur unzureichend, zu ineffektiv für die erweiterte Union. Deshalb sollte es ja die Verfassung geben. Ein nur ökonomisch verbundenes Europa ist eine Illusion – schon weil man einen politischen Rahmen für die Ökonomie braucht. Mit Jacques Delors gesagt: In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben.

Und in das Brüssel-Europa offenbar auch nicht. In den Niederlanden war die Ja-Kampagne offenbar eher eine Nein-zum-Nein-Kampagne. Warum ist es so schwer, die EU auf eine entspannte Weise gut zu finden?

Weil die EU keinen Anwalt hat und viele das Gefühl haben, dass Europa einem etwas wegnimmt. Viele Wähler meinen, dass die EU ihnen ihre Identität kostet, viele Politiker fürchten, dass ihnen die EU ihre Kompetenz auf nationaler Ebenen nimmt. Die EU hat keinen neutralen Anwalt. Deshalb gibt es einen Diskurs, der Europa mit den Technokraten in Brüssel identifiziert. Dabei sind doch wir alle Europa.

Warum schlägt sich dies nicht, wie diese beiden Neins zeigen, in dem politischen Bewusstsein nieder?

Das ist auch ein Echo – eine Rechnung für eine politische Bigotterie. Seit Jahrzehnten inszenieren die nationalen Politiker ein Spiel, das heißt: Alles Gute verdanken wir dem Nationalstaat, alles Schlechte der EU. Das gilt für die französische, die niederländische und die deutsche Politik …

für wen? …

… auch für Schröder, der im Bashing der EU-Kommission in den letzten Jahren einige Übung bekommen hat. Für Stoiber gilt das Gleiche: Das Übel kommt immer aus Brüssel. Ist es verwunderlich, wenn die Wähler irgendwann sagen: weg mit Brüssel?

Nun hilft diese Klage nicht viel. Was muss sich ändern?

Das TV-Magazin „Panorama“ hat kürzlich sieben Politiker, von Friedbert Pflüger über Wolfgang Thierse bis Wolfgang Gerhardt, sieben Fragen zur EU gestellt. Keiner konnte auch nur eine richtig beantworten – auch nicht, wie viele gelbe Sterne auf der EU-Flagge sind. So kann Europa nichts werden. Wir brauchen also, von Portugal bis Estland, eine europäische Bürgerkunde in den Schulen, wo die Kinder lernen, wie die Hauptstädte der EU-Staaten heißen und wie viel Sterne die EU-Flagge hat …

Damit machen Sie Europa zum pädagogischen Projekt?

Ja, und? Sie können auch die deutsche Demokratie nicht erhalten, wenn die Leute nicht wissen, wie der Kanzler gewählt wird. Ich will keine Indoktrination. Aber wie soll die EU eine lebendige Demokratie werden, wenn sich die Bürger nicht in ihr verorten und die Institutionen dieser Demokratie nicht kennen?

Muss die EU nicht selbstkritisch eingestehen, dass die Osterweiterung zu schnell kam und das Publikum überfordert hat?

Nein. Was wäre denn die Alternative gewesen? Ich finde den Ton, den einige derzeit im politischen Establishment anschlagen, unmoralisch. Die deutsche Krise ist doch keine Folge der Osterweiterung. Hätten wir den Polen die Chance verweigern sollen, ihr Glück in Europa zu finden? Also die gleiche Chance zu haben, die die Bundesrepublik auch nach dem Krieg bekam? Die Idee, dass wir Deutsche den Polen und Ungarn, die das Pech hatten, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs zu leben, diese Chance verweigern, ist abwegig.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE