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Archiv-Artikel

Reise in die Vergangenheit

Lutz Rathenows und Harald Hauswalds Buch „Die andere Seite einer Stadt“ ist unter dem Titel „Leben vor dem Mauerfall“ neu aufgelegt worden. Es zeigt Ostberlin in den 80ern und auch den Sehnsuchtsort einer gelangweilten Westjugend in den 90ern

VON SANDRA LÖHR

1987 veröffentlichten der Schriftsteller Lutz Rathenow und der Fotograf Harald Hauswald ein Foto-Text-Buch mit dem Titel „Berlin-Ost. Die andere Seite einer Stadt“. Erscheinungsort war München, auf den Bildern sah man Punks, alte und skurrile Menschen, verrottete Hinterhöfe in Prenzlauer Berg, in denen Kinder spielten und lange Menschenschlangen vor Geschäften mit der verwitterten Aufschrift „Fleischerei“. Also alles Straßenszenen, die jenseits dessen lagen, was Honecker & Co der Welt als Bild von der „Hauptstadt der DDR“ verkaufen wollten.

Beim Erscheinen des Buches waren die DDR-Behörden dann auch not amused, schließlich sollte gerade der 750. Geburtstag der Hauptstadt der DDR gefeiert werden, und so wurde die Veröffentlichung beim westdeutschen Piper Verlag als unfreundlicher Akt gegen das Kulturabkommen zwischen der DDR und der BRD eingestuft. Man bewertete das Buch als „versuchte Gruppenbildung“, verbot es offiziell und beschlagnahmte es öffentlichkeitswirksam auf der Leipziger Buchmesse. Trotzdem oder gerade deshalb verkaufte sich das Buch im Westen glänzend, nach einem Jahr war es vergriffen.

Jetzt, fast 20 Jahre später, gibt es eine überarbeitete Neuauflage, und weil das Erinnerungsgeschäft mit der DDR nicht nur im wiedervereinigten Deutschland, sondern spätestens seit dem internationalen Erfolg von „Good Bye Lenin“ auch im Ausland boomt, erscheint das Buch gleich zweisprachig: auf Deutsch und Englisch. Und auch der Titel wurde geändert: Nicht mehr „Die andere Seite einer Stadt“, sondern „Leben vor dem Mauerfall“ heißt es jetzt. Das klingt ein bisschen nach Reise in eine Vergangenheit, die verschwunden ist und die es wieder ausfindig zu machen gilt. Auf dem Cover des Buches sieht man dann auch folgerichtig einen Mann und zwei Frauen, die einen weißen Trabant schieben.

Das Bild wirkt ein bisschen pittoresk, ein bisschen lustig und ein bisschen rührend, ganz so, wie heute die DDR gern gesehen wird. „Ostberlin war mehr als ein Buch. Es war unsere Art der Liebeserklärung an eine Stadt, die wir zugleich als Hälfte einer geteilten Stadt und doch auch als Ganzes wahrnahmen. Wir liebten Ostberlin und lehnten die Regierung ab. […] Insofern sind Text und Fotos gleichzeitig Beleg einer lustvoll gelebten Ostidentität und Ausdruck oppositionellen Verhaltens gegen den Staat“, schreibt der Schriftsteller Lutz Rathenow im Vorwort zur neuen Ausgabe. Tatsächlich beschwört das Buch aber viel mehr als politische Opposition und jenes schwammige Gefühl von „Ostidentität“, die sich bei manchen sowieso erst nach der Wiedervereinigung einstellte. Denn im Jahr 15 nach der Wiedervereinigung geht es schon längst nicht mehr nur um Politik oder Identität, sondern auch um Ästhetik. In den Bildern von dieser verschwundenen Stadt entdeckt man vielmehr das spezifische Lebensgefühl eines Ostberlin, das in den Neunzigern zu einem Anziehungspunkt für die gelangweilte Westjugend wurde. Das Buch zeigt manchen Lesern nicht nur die „Hauptstadt der DDR“, wie man im Osten sagte, oder „Ostberlin“, wie es im Westen hieß, sondern auch das Leben in den Ostberliner Bezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain, die zum Sehnsuchtsort für ein anderes Leben wurden.

Im Text beschreibt der Autor Rathenow während eines Spaziergangs mit einem Bekannten aus dem Westen das Entzücken des Besuchers über quietschende Straßenbahnen, Kohlenträger mit Kiepen auf dem Rücken, Gaslaternen und Pferdefuhrwerken und stellt fest: „Das Szenario eines Films der Zwanzigerjahre.“ Und so wird das Buch zu einem melancholischen Abgesang auf die verschwundene Alltagskultur eines Landes, in dem irgendwie die Zeit stehen geblieben war. Über die damalige Anziehungskraft von Ostberlin heißt es anderer Stelle: „Alle Fäden liefen da zusammen, wurden zum unentwirrbaren Knäuel. Das Gefühl, näher dran zu sein. An der Welt, die weitgehend der andere Teil der Stadt repräsentiert. Der Westen im Osten.“ Vielleicht lässt sich der Hype um Prenzlauer Berg heute genau andersherum erklären. Der Osten war manchen eine vorglobalisierte Welt, in der noch nicht alles gleich aussah.

Harald Hauswald, Lutz Rathenow: „Leben vor dem Mauerfall“. Jaron Verlag, Berlin 2005, 128 S., 12 €. Heute Lesung mit Lutz Rathenow und Harald Hauswald, 20.15 Uhr, Lehmanns Fachbuchhandlung, Hardenbergstr. 5