: Pinkeln ist politisch
In einer Sommernacht 2022 erleichterte sich ein Mann gegen 0.36 Uhr mit dem Rücken zum Strand stehend in die Ostsee. In flagranti erwischt verhängte das Lübecker Ordnungsamt „wegen Belästigung der Allgemeinheit“ eine Geldbuße von 60 Euro. Doch nun wurde der Mann freigesprochen. Ein Urteil mit Strahlkraft – und philosophischem Tiefgang. Hier einige Auszüge aus der Begründung des Richters. Wir haben markiert, worauf Sie beim Wildpinkeln achten sollten:
(…) Grund 4
Der Betroffene hat sich dahin eingelassen, dass selbst zu seinem am Strand sitzenden Freundeskreis ein Abstand von etwa 20 Metern bestanden habe, auch Spaziergänger seien zu dieser Uhrzeit zu seiner Wahrnehmung (…) nicht mehr unterwegs gewesen.
Grund 5
Auch durch die Vernehmung der Zeugen des Ordnungsamts hat sich kein Hinweis darauf ergeben, dass die Verrichtung des Betroffenen nach Art, Ort und Umständen zu Belästigungen geeignet gewesen wäre. So konnten insbesondere keine belastbaren Feststellungen dazu getroffen werden, dass der Betroffene bei Dunkelheit oder im Restlicht der Uferbeleuchtung mehr als allenfalls schemenhaft für Dritte sichtbar war. Die Zeugen selber haben den Vorgang unter Annäherung an den Betroffenen und Verwendung von Taschenlampen aufgeklärt und dokumentiert.
(…) Grund 7
Die verbliebenen tatsächlichen Feststellungen rechtfertigen die Annahme einer Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 OWiG nicht. Danach handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. (…) Dabei sind die Umstände des Einzelfalls zu beachten und der stete gesellschaftliche Wandel zu Fragen des gedeihlichen Miteinanders.
Grund 8
Der Vorgang des Wasserlassens unter freiem Himmel außerhalb von Bedürfnisanstalten ist unter Beachtung üblicher Rücksichtnahmen und ohne Hinzutreten besonderer Umstände keine grob ungehörige Handlung in diesem Sinne. Die grobe Ungehörigkeit ergibt sich nicht aus der Eignung zur Verletzung des Schamgefühls (a) und nicht aus belästigenden Verunreinigungen oder belästigenden Gerüchen (b).
Grund 9
a) Das Verhalten des Betroffenen war nicht geeignet, das Schamgefühl zu verletzen. Auch wenn empirisch gefestigte Aussagen zur Haltung der Allgemeinheit in dieser Frage nicht zu erlangen sind, so lässt sich doch folgendes festhalten: Als Vorgang natürlich menschlichen Ursprungs wird er nach Geschlechtern getrennt in öffentlichen Bedürfnisanstalten nach Belegung und baulichen Vorrichtungen auch in Gesellschaft verrichtet. Bei Sanitäreinrichtungen für Männer findet dabei unter anderem an durchgehenden Pissoirs, an Rinnen oder sonstigen offenen Abtritten auch das gesellige Wasserlassen statt. Der Vorgang ist danach auch in Gesellschaft tendenziell eher nicht schambehaftet. Soweit Fragen der Scham beim Wasserlassen außerhalb von Bedürfnisanstalten insbesondere über Geschlechtergrenzen hinweg berührt sein können, entspricht es der Üblichkeit, sich soweit als es die Umgebung zulässt, den Blicken anderer zu entziehen, sich zumindest aber abzuwenden und diskret zu verhalten. (…) Dass es am Spülsaum der Ostsee landschaftlich anders als in Bergen und an Waldrändern keine weiteren Möglichkeiten zum landschaftlichen Rückzug gegeben hat außer der Abkehr, kann dem Betroffenen dabei nicht zum Nachteil gereichen. So ist es halt an der Küste.
(…) Grund 11
(b) Eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ist nicht eingetreten. Die Ostsee enthält eine Wassermenge von 21.631 Kubikkilometern Brackwasser. Der Verdünnungsgrad wäre selbst im Wiederholungs- oder Nachahmungsfall so hoch, dass eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ausgeschlossen ist.
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(…) Grund 13
Nachdem als Anknüpfungspunkt einer Belästigung der Allgemeinheit das Schamgefühl, die Verunreinigung durch Rückstände oder die Belästigung durch Gerüche ausgeschlossen werden kann, ist das Verhalten des Betroffenen eine nach der allgemeinen Handlungsfreiheit des Artikel 2, Absatz 1 (GG) geschützte und letztendlich wohl auch naturrechtlich verankerte menschliche Willensbetätigung. Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszelts nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.
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