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Archiv-Artikel

Mit aller Kraft der Nasenflügel

NEODADA Das Original Nasenflötenorchester feierte sein 20-jähriges Jubiläum im Monarch

Das Ensemble macht ein Gezwitscher, gegen das ein ganzer Vogelpark nicht ankäme

Sie pfeifen immer noch nicht auf dem letzten Nasenloch. Im Gegenteil: Diese Herren um die 50 wirken, als könnten sie locker noch zwanzig Jahre dranhängen. Sozialistische Hymnen trällern sie noch mit genauso großer Inbrunst wie Marianne-Rosenberg-Schunkelnummern („Bier gehört zu er“), eine Highspeedversion von Motörheads „Ace of Spades“ steht neben „Dreams Are My Reality“ aus der Überschmonzette „La Boum“.

Ein bisschen Rock ’n’ Roll und anarchischer Freigeist, das hält jung, und so überstand die Altherrencombo des „Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchesters: Der Grindchor“ auch ohne Weiteres einen Samstagabend im Kreuzberger Monarch, der von Tanzwut, von Schweiß, von Gejohle und Gegröle geprägt war. Und von Begeisterung: „Der Applaus ist vollkommen berechtigt“, konstatierte Bandmitglied Dieter Kölsch zwischendurch. Das wiederholt der mit Strohhut, Sonnenbrille und Nietengürtel ausstaffierte Nasenflöter bei den Auftritten gebetsmühlenartig – hat damit aber auch seit nun zwei Dekaden recht.

20-jähriges Bühnenjubiläum feierte das in Kreuzberg zur Institution gewordene, darüber hinaus aber nie zu Ruhm gekommene Orchester vergangenen Samstag im Kreuzberger Monarch. Das zwölfköpfige Ensemble war das erste in Deutschland mit der Nasenflöte als Hauptinstrument. Elf von zwölf Männern blasen mit aller Kraft ihrer vibrierenden Nasenflügel in das an einen Schnuller oder eine Kinderflöte erinnernde Instrument, begleitet von Hermann Halb an der Gitarre. Heraus kommt ein großartiges Gezwitscher, gegen das ein ganzer Vogelpark nicht ankommen würde. Und bei den Konzerten ein fulminantes Livetreiben: Die Party hat immer recht!

Das Nasenflötenorchester ist zugleich ein Sammelbecken für die Kiezboheme: Der Künstler Klaus Theuerkauf ist ebenso dabei wie der an zahlreichen Bandprojekten beteiligte Hanns Martin Slayer; üblicherweise ist auch Autor Thomas Kapielski an Bord. Auch Brezel Göring von Stereo Total und der Schauspieler Mario Mentrup hatten einst Mitgliedsausweise für den neodadaistischen Grindchor.

Heute repräsentiert die Band einen anarchischen Geist des Kreuzberg der 80er und 90er, von dem im Viertel immer weniger bleibt. Also galt es für diesen einen Abend, sich selbst und den Augenblick zu feiern, und das gelang den Nasenflöten mit Bravour.

Mit Jubiläumsgast Frieder Butzmann riefen sie flötend die sozialistische Republik aus – einer der Höhepunkte des Abends. Auch der einzige Berliner Beatle, Klaus Beyer, wurde auf die Bühne geladen: Bei „Dreh schrei raus“ (Twist & Shout) und „Alter Spalter“ (Helter Skelter) machte der bald 60-Jährige, der sämtliche Beatles-LPs ins Deutsche übertragen hat, das stimmliche Gesamtkunstwerk mit seinem quäkenden Gesang komplett. Kaum einer konnte sich dem Enthusiasmus, den die Nasenflöten ausstrahlen, entziehen.

Sobald sie Tracks wie Serge Gainsbourgs „Poupée de cire, poupée de son“ anstimmen, das höllische mehrstimmige Gepfeife einsetzt und das Orchester sich verausgabt, um aus diesem kleinen Plastikgerät und den Nasen alles herauszuholen, bekommt auch das Publikum das Grinsen kaum mehr aus dem Gesicht.

Das Nasenflötenorchester selbst sagt zwar, es sei „Ohrmasochismus“, sich seine Musik über einen längeren Zeitraum anzuhören, aber das ist natürlich Understatement. Weltruhm wird dem Orchester wohl auch künftig nicht zuteil werden, in Kreuzberg aber bleibt es eine große Nummer.

Damals, 1999, als sie im SO 36 ihren Austritt aus der KPD/RZ erklärten, pfiffen sie in Endlosschleife „Kreuzberger Nächte sind lang“, bis sie mit Bierdosen beworfen wurden – genau die Art Ehrerbietung, die sie lustig finden. Diese Kreuzberger Nacht aber war den meisten noch zu kurz. JENS UTHOFF