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Archiv-Artikel

Wenn Wahlen was verändern

WAHL Erstmals gibt es eine ernste Alternative zu den seit 50 Jahren regierenden Liberaldemokraten

Was Japan wählt

■  Liberaldemokratische Partei: Die LDP steht Mitte-rechts und regiert, mit einer neunmonatigen Unterbrechung, seit 1955. Nach letzten Umfragen könnte die LDP von derzeit 296 auf bis zu 100 Mandate schrumpfen.

■ Demokratische Partei: Die DPJ wurde 1996 von ehemaligen Liberaldemokraten, Sozialisten und Konservativen als Sammelbecken der Opposition gegründet. Sie wird Mitte-links eingeordnet und will mit einer kleineren linken und einer kleineren rechten Partei eine Koalition eingehen. Aktuell hat die DPJ 113 Sitze, die sich laut Umfragen fast verdreifachen könnten.

■ Gerechtigkeitspartei: Die Komeito ist die politische Vertretung der buddhistischen Soka Gakkai. Seit 1999 regiert sie zusammen mit der LDP. Ihre 31 Mandate werden kaum zu halten sein.

■ Kommunisten: Die mit 400.000 Mitgliedern größte nichtregierende KP der Welt erhielt 2005 über 7 Prozent und verfügt über 9 Sitze. Sie muss mit Verlusten an die DPJ rechnen. (mf)

AUS TOKIO MARTIN FRITZ

Eigentlich kommt die Wahl für Premierminister Taro Aso zu einem nicht völlig ungünstigen Zeitpunkt: Japan hat die schwerste Rezession seit dem Krieg überwunden. Zwischen April und Juni ist die japanische Wirtschaft sogar stärker gewachsen als die aller westlichen Industrieländer. Doch die Umfragewerte seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) sind unverändert schlecht. Bei der Unterhauswahl am Sonntag zeichnet sich für LDP, die seit 1955 fast ohne Pause regiert hat, eine historische Niederlage ab.

„Der Premierminister hat keine Ahnung von der Stimmung im Volk“, stichelt Yukio Hatoyama, der Vorsitzende der oppositionellen Demokratischen Partei (DPJ). „Die Geldbörsen der Menschen werden immer leichter.“ Trotz der Konjunkturerholung waren die Gehälter im Juni 7 Prozent niedriger als im Vorjahr. Und die Arbeitslosenquote dürfte im Juli 5,5 Prozent erreicht haben – Nachkriegshoch.

Die japanischen Wähler leiden schon lange. Volksvermögen, Einkommen und Lebensstandard sind seit den Neunzigerjahren stetig gesunken, ein Drittel der Arbeitsplätze ist befristet. Japan hat die höchsten Staatsschulden aller Industrieländer, dennoch hat die LDP ihren Abbau gerade zehn Jahre in die Zukunft verschoben. Die Bevölkerung altert schneller als in jeder anderen Nation. Trotzdem sind Renten und Gesundheitswesen nicht solide finanziert, und Immigration bleibt ein öffentliches Tabu. Und trotz der Konjunkturerholung wird die Wirtschaft in diesem Jahr um geschätzte sechs Prozent schrumpfen, weil japanische Autos und Elektronik weltweit weniger Käufer finden.

Vor vier Jahren bescherte der damalige charismatische Premierminister Junichiro Koizumi der LDP noch einen grandiosen Wahlsieg. Die von ihm betriebene Privatisierung der Post unterstützten die Wähler als Auftakt zu weiterem Wandel. Doch dabei ist es geblieben. Seitdem hat die Partei ihren Spitzenmann dreimal ausgewechselt. Amtsinhaber Aso ist schwach und unbeliebt.

Die Opposition hingegen kann nach den letzten Umfragen sogar auf eine absolute Mehrheit hoffen. Eine „Revolution im Denken“ sei das, meint der Politologe Axel Klein vom Institut für Japanstudien in Tokio.

Die Wahlerfolge der LDP beruhten lange darauf, die Steuern der Städte aufs Land umzuleiten. Dort wurden etliche Brücken, Dämme, Straßen und Freizeitparks errichtet, was in den verarmten Regionen Arbeitsplätze schaffte. Im Gegenzug kassierte die LDP die Spenden der Baufirmen und die Stimmen der ländlichen Bevölkerung. Doch dieses Perpetuum mobile der Macht trieb die Staatsschulden hoch, blähte den Bausektor auf und verschandelte die Umwelt. „Japan war einmal ein schönes Land“, beklagt Hiroshi Fujikado. „Jetzt ist die Hälfte der Küsten zubetoniert.“ Der 63-jährige Blaubeer-Farmer, ein Guru der Ökobewegung in Japan, sitzt für die Demokratische Partei in einem Gemeinderat in Hokkaido. „Wir exportieren Fernseher und importieren Nahrungsmittel“, kritisiert er.

Von heute aus betrachtet war der Sieg der LDP bei den letzten Wahl nur eine kurze Atempause in einem Niedergang der LDP, der vor zwanzig Jahren Jahren, mit dem Verblassen des japanischen Wirtschaftswunders einsetzte. Seit zehn Jahren regiert sie mit Hilfe der buddhistischen Gerechtigkeitspartei.

Doch nun haben die Wähler erstmals eine inhaltliche Alternative. Die lange Zeit zersplitterten Oppositionskräfte, zu der frühere Liberaldemokraten und Sozialisten gehören, haben sich auf ein Wahlprogramm geeinigt und werden auch von Gewerkschaften unterstützt. „Der Tag ist gekommen, Japans Geschichte zu ändern“, kündigt DPJ-Spitzenkandidat Hatoyama an. „Wir werden eine liebevolle Politik machen.“

Dafür will die DPJ ein Kindergeld von umgerechnet 200 Euro monatlich einführen und die Gebühren für Schulen und Autobahnen senken oder abschaffen. Sie will den Mindestlohn erhöhen, die Renten sichern und die Zeitarbeit beschränken. All das soll den Privatverbrauch anregen und die Wirtschaft unabhängiger von Exporten machen. Finanzieren will man die Zusatzausgaben durch einen Umbau des Haushalts. Die Ursache der Malaise sieht die Opposition in dem „eisernen Dreieck“ aus führenden Beamten, Groß- und Finanzindustrie und Verlegern, die den Status quo verteidigten.

Viele Beobachter sprechen von einer Protestwahl, kritisieren die populistischen Versprechen und warnen vor zu hohen Erwartungen. „Die DPJ wird sich selbst das größte Hindernis sein“, meint Sven Saaler, Historiker an der Sophia-Universität in Tokio. Die Partei habe noch keine echte Identität. Doch der Wunsch nach Aufbruch ist so groß, dass die Mehrheit der Japaner trotz allem den Wechsel wagen will.