: Eine fabelhafte Generation
Helene Maimann hat eine glänzende Geschichte der linken Juden in Wien geschrieben – und ihrer Kinder
Von Robert Misik
Als Stalin starb, weinte ich bitterlich. Wir hätten nicht überlebt ohne ihn“, erzählt Robert Schindel. Damals war Schindel, der spätere Romanautor und Lyriker, gerade einmal neun Jahre alt. Erstmals erfuhr er von Stalins Verbrechen, „da war ich zwölf“. Mit seinem engsten Schulfreund tauschte er da gleich den Schwur aus, „wir lassen uns den Genossen Stalin nicht aus dem Herzen reißen“.
Dass Robert Schindel überhaupt überleben konnte, ist ein bis heute nicht völlig erklärbares Wunder. Seine Eltern waren kommunistische Widerstandskämpfer, die getarnt aus der Emigration zurückkehrten, um die Nazis zu bekämpfen. 1944 kam das Baby, vier Monate danach fliegen die Eltern auf. Der Vater wird in Dachau hingerichtet, die Mutter überlebt die Lager. Das Baby wird in jüdische Waisenhäuser gesteckt. Die Kinderschwestern verhinderten mit Tricks die Deportation. Kaum weniger erstaunlich, fand die Mutter ihr Kind dann im Chaos der Nachkriegswirren. Der Bub hat ja auch einen markanten Leberfleck.
Die Geschichte ist in Grundzügen bekannt, aber die Autorin und Historikerin Helene „Helly“ Maimann hat Dutzende vergleichbare Biografien zusammengetragen. Oder besser: durchlebt, und jetzt endlich aufgeschrieben. Denn was die heute 76-jährige ausbreitet, ist die Geschichte ihres Milieus: Die Geschichte einer großen Gruppe kommunistischer, linker Juden, die im Exil, im Widerstand oder in den Lagern überlebte, dann nach Wien zurückkehrte, und es ist die Geschichte ihrer Kinder, die gemeinsam ihre Jugend in den verschlossenen kommunistischen Kaderzirkeln verbrachten.
Etwa in den Jugendcamps der Freien Österreichischen Jugend (FÖJ). Ihre Eltern waren gläubige Stalinisten, die ihr Wissen über die stalinistischen Verbrechen in ihrem Inneren verkapselten. Die meisten brachen irgendwann mit dem Stalinismus. Von den Eltern wurden viele Eurokommunisten, die Kinder gerieten in den Sog von 1968, der künstlerischen Avantgarde, von Pop und Rock und dann der Wiener Gruppe. Wurden Autoren, Künstlerinnen. Es ist eine erstaunlich große, erstaunlich kompakte und bis heute eng verbundene Gruppe, die prägend für das Wiener Geistesleben wurde.
Maimanns Eltern überlebten die Schoah im Londoner Exil und gingen dann bitterarm nach Wien zurück, wo die Autorin 1947 geboren wurde. Martin, der Vater, organisierte das Ölgeschäft der Kommunisten und wurde dann wohlhabend. Da ist der heute in Wien berühmte Lederwarendesigner Robert Horn, dessen Vater in der Fabrik von Oskar Schindler arbeitete, wie über tausend andere jüdische Zwangsarbeiter von diesem gerettet wurde – und der zu jener großen Gruppe der Geretteten zählte, die Schindler im Nachkrieg, in dem er als Judenhelfer in Deutschland kein Bein mehr auf den Boden brachte, ein auskömmliches Leben mit schönen Anzügen und in den besten Hotels ermöglichte.
Da ist der Kinderarzt Timothy Smolka, dessen Vater in London als mutmaßlicher Komintern-Konfident mit Kim Philby und den „Cambridge Five“ kungelte, der wohl berühmtesten Agentenzelle der Geschichte.
Da ist Jean „Schani“ Margulies, der in den sechziger und siebziger Jahren bei keiner linken Demo fehlte, dessen Mutter ihn im französischen Exil zunächst gemeinsam mit einem anderen Kind einer Wiener Genossin aufzieht (das Kind sollte als André Glucksmann später in Frankreich eine große Nummer werden). Als die Margulies auffliegen, wird Schani bei Bauern versteckt und überlebt, obwohl die Gestapo das Baby sucht. Schanis Sohn sitzt heute für die Grünen im Wiener Landtag.
Helene Maimann: „Der leuchtende Stern. Wir Kinder der Überlebenden“. Zsolnay Verlag, Wien 2023, 366 Seiten, 28 Euro
Da ist Elisabeth Toni Spira, die Tochter harter Kommunistenführer, die als einzige mit den stalinistischen Prägungen nicht brechen musste, weil sie die Härte dieses Milieus immer schon verabscheute. Da ist der junge Abenteurer und Kämpfer Seev Eisikovic, der in Budapest ein Fälschergenie wurde und seine Untergrundzirkel mit fantastischen Personaldokumenten ausstattete, dann verhaftet wurde, die Folter überlebt und am Ende wie seine ganze Gruppe von einem Wehrmachtsoberst gerettet wurde. Seine Tochter wurde dann in der linken Ökonomengruppe „Roter Börsenkrach“ eine legendäre Führungsfigur.
Es sind atemberaubende Geschichten, die Helly Maimann da zusammenträgt. Ganz nebenbei gelingt ihr in poetischen Passagen eine Kulturgeschichte der sechziger und siebziger Jahre, des popkulturellen Aufbruchs, des Kampfes gegen den Mief von tausend Jahren. Maimann beschreibt eine Gruppe, die im angebräunten Österreichertum mit seinem nie vollzogenen Bruch mit dem Nazismus stets auch in einem Zustand diasporischer Reserviertheit blieb.
Maimann: „Der Paragraf 1 der österreichischen Seelenverfassung lautete: Wir waren nicht dabei.“
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