Massenmord am Mikrofon

HASSREDEN (2) Überzeugendes Dokumentartheater: Man schluckt an den Erkenntnissen, die das Stück „Hate Radio“ zu bieten hat

Es geht nicht nur um Mord, es geht um besonders grausame Formen des Mordens. Das vermeintlich Unvorstellbare ist aber sehr wohl vorstellbar, es ist sprachliche Fantasie, bevor es geschieht und nachdem es geschehen ist. Wie in einem Rausch, in dem die Sprechenden den engen Ort ihres Körpers verlassen können und Macht erhalten, weit weg von ihrem eigenen Hier und Jetzt Taten zu vollziehen, kommt die Hassrede über die drei Moderatoren Valérie Bemeriki, Georges Ruggiu und Kantano Habimana in dem Radiostudio, das der junge Schweizer Regisseur Milo Rau für „Hate Radio“ nachbauen ließ.

„Hate Radio“ ist ein dokumentierendes Theaterstück über die Massaker der Hutu an den Tutsi in Ruanda 1994. Im Zentrum steht eine einstündige Radiosendung, montiert aus vielen Ausstrahlungen des Propagandasenders Radio RTLM, dessen Moderatoren zwischen Musik, Spielen, militärischen Nachrichten und Gesprächen mit den Hörern zur Denunziation und zum Mord aufriefen. Gerahmt wird dieses Reenacment von den Erinnerungen von Menschen aus Ruanda aus vier Perspektiven. Ihre Gesichter und ihre Erzählungen werden außen auf den Glaskasten projiziert, in dem das Studio aufgebaut ist.

Unterhaltung und Mord

Dieses Glashaus war selbst schon eine Bühne: ein Ort, an dem die Imagination der Realität ihr Modell vorschreiben wollte. Gerade dieses Setting macht das Stück, das vor seiner Einladung zum Theatertreffen auch schon vom Volkstheater München im Rahmen des Festivals „Radikal jung“ eingeladen war, nicht nur so beklemmend in der Nachinszenierung der Geschichte, sondern auch so überzeugend. Nachgespielt wird eine Show, die sich in vielen Elementen – dem Timing, der Musik, dem Talk mit Gästen, ja selbst im Gestus der Verschwörung mit den Zuhörern – genau mit dem überschneidet, was man als gute Unterhaltung zu schätzen gelernt hat. Natürlich macht diese dünne Linie, die das Vertraute von der mörderischen Überschreitung trennt, das Stück so unheimlich.

„Hate Radio“ hat viele Koproduzenten in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Brüssel und in Kigali selbst. Die Sprachen der Aufführungen sind Französisch und ein Hutu-Dialekt, die Übersetzungen werden teils über Kopfhörer eingesprochen, teils in Übertiteln projiziert. Schon allein die unterschiedlichen Sprachmelodien, das schmerzhaft langsame Französisch der Erinnerungen und die virtuose Sprachbeherrschung der Moderatoren, ihre dynamische Dramatik, geben dem Stück eine so glasklare Ästhetik.

Man lernt viel über die Funktionsweise des Völkermords; erklären zu können, woher die über alle militärischen und territorialen Interessen hinausreichende Grausamkeit kommt, beansprucht das Stück hingegen nicht. Man schluckt an dem, was es als Erkenntnis mitbringt. Die Geschichte so konkret zu fassen zu bekommen und so treffend vom Unbehagen im Umgang mit ihr zu erzählen, gelingt auch dem Dokumentartheater nicht oft. Zu Recht hat „Hate Radio“ an allen Spielorten, auch in Ruanda selbst, positive Kritiken bekommen. Und auf dem Theatertreffen sah man auch schon lange keinen so ästhetisch überzeugenden Zugriff mehr auf die harten Realitäten der Welt.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Das Theatertreffen in Berlin zeigt bis zum 21. Mai zehn ausgewählte Inszenierungen. „Hate Radio“ läuft dort vom 16. bis zum 18. Mai