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Archiv-Artikel

Leben in der Grauzone

PREKARIAT In den Niederlanden kann man erst Hausbesetzer sein und dann Hausbesetzerschützer – oder auch umgekehrt

VON TOBIAS MÜLLER UND TINO BUCHHOLZ

Hausbesetzerschützerin Ellen lag gerade im Bett, als die Tür aufging. Ein Mann trat ins Schlafzimmer, und es sah nicht so aus, als wollte er ob des Anblicks, der sich ihm bot, peinlich berührt kehrtmachen. Für den anderen Mann, den im Bett, den Ellen gerade erst kennengelernt hatte, war die Sache klar: „Ich wusste nicht, dass du mit jemandem zusammenwohnst“, stammelte er. „Tue ich auch nicht, das ist der Kontrolleur“, brachte Ellen heraus.

Die 30-jährige Studentin, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist eine von rund 50.000 Menschen, die in den Niederlanden vorübergehend leerstehende Gebäude bewohnen, um sie vor Hausbesetzern zu schützen. Sie hat einen speziellen Mietvertrag, den der Vermieter mit nur vier Wochen Frist kündigen kann und in dem sie zudem zustimmen musste, die Wohnung jederzeit kontrollieren zu lassen – auch ohne Ankündigung. Zum Ausgleich ist die Miete sehr günstig. Ellen zum Beispiel bezahlt für ihre Zweizimmerwohnung in Amsterdam 115 Euro im Monat – ohne Nebenkosten.

Die Niederlande hat traditionell eine starke Hausbesetzerbewegung. Bis vor zwei Jahren war eine Hausbesetzung sogar nicht einmal verboten, bis Christdemokraten und Rechtsliberale zusammen mit der rechtspopulistischen „Partei für die Freiheit“ ein entsprechendes Strafgesetz einführten. Bis dahin wurden Besetzungen nicht strafverfolgt, wenn das betreffende Haus länger als ein Jahr leer stand.

Weil die Polizei den Vermietern bei Besetzungen (niederländich: „kraaken“) also nicht helfen konnte, schützten die sich, indem sie Billigmietverträge wie etwa den mit Ellen abschlossen. Diese sogenannten Antikraak-Verträge sind bei Eigentümern leerstehender Häuser in den Niederlanden immer noch sehr populär.

Keine Privatsphäre

Das Viertel, in dem Ellen wohnt, ist schmucklos und geprägt vom sozialen Wohnungsbau. Bald sollen hier neue Eigentumswohnungen entstehen, und bis es so weit ist, wohnt in jeder der vier Etagen ein „Antikraaker“. Wie lange Ellen bleiben kann, weiß sie nicht. Ihr Mietvertrag heißt offiziell „Gebrauchs-Leih-Kontrakt“, und darin ist ausdrücklich festgehalten, dass er „keinen Anspruch auf Mieterschutz“ gewährt. Antikraak-Verträge enthalten ein strenges Reglement: Mehr als zwei Wochen Abwesenheit ist nur mit Zustimmung der Vermieters möglich, Partys, Kinder und Haustiere sind untersagt. Zudem muss die Wohnung stets ordentlich aussehen, denn die Bewohner, so wurde Ellen einmal vom Vermieter bescheinigt, „sind unsere Visitenkarten“.

Um deren Zustand zu prüfen, hat der Leerstandsverwalter einen Wohnungsschlüssel, um jederzeit vorbeizukommen. „Natürlich geschieht das immer unangemeldet“, sagt Ellen. Ein Einzelfall ist sie nicht: Klagen über Verletzung der Privatsphäre gibt es bei den meisten der etwa 50 Unternehmen, die solche Verträge anbieten.

Das Profiling der Agenturen zielt auf flexible Mittelstandskinder, Studenten und Kreative. Oft aber verbirgt sich hinter dem Antikraak-Modell die blanke Not, und so entsteht ein dritter, gänzlich unregulierter Wohnungsmarkt – der aber trotzdem für viele Wohnungssuchenden attraktiv ist. Denn für Sozialwohnungen gibt es in den Niederlanden Wartezeiten von sechs Jahren oder mehr, und der freie Sektor besteht hauptsächlich aus teuren Eigentumswohnungen.

Vielfach ist Antikraak die letzte Ausfahrt vor der Obdachlosigkeit. Für Merel zum Beispiel, Mitte 20, die vor kurzem in ein kleines Haus in einem Arbeiterviertel am Rand von Den Bosch zog. Auch diese Siedlung gehört einer Wohnungsbaugesellschaft. In den nächsten Jahren regiert hier die Abrissbirne, doch zuvor ist die Stunde der Antikraak-Agenturen. Merel wusste nicht, wo sie sonst bleiben sollte. Mit 17 hatte sie schon einmal als Antikraakerin gewohnt, in einem Bürogebäude, das zum Verkauf stand. Irgendwann hatte sie die ständigen unangekündigten Besuche satt und lebte fortan in besetzten Häusern. Sie hat also sowohl als Besetzerin als auch als Besetzerschützerin gelebt – wie viele Niederländer.

Abel Heijkamp, Sprecher des „Bundes Prekäre Wohnformen“, meint: „Dass Menschen keine vernünftige Unterbringung haben, ist politisches Versagen.“ Kommunen, so Heijkamp, entledigten sich ihrer sozialen Verantwortung, indem sie die Bewirtschaftung von Wohnraum an Antikraakbüros auslagern. Die Bewohner landen in einer rechtlichen Grauzone, ohne Rechte, aber durchaus mit Pflichten. Antikraker sind Wachschützer, Hausmeister und Putzpersonal, nur keine Mieter. Eigentümer und Versicherungen behandeln derweil die jeweiligen Objekte weiterhin, als stünden sie leer – sie sind lediglich sich selbst verpflichtet.

Hauswächter gesucht

Camelot Europe ist der Marktführer unter den Zwischenvermietungsagenturen. Das Unternehmen expandierte bereits vor zehn Jahren nach Belgien, Großbritannien und Irland, ist seit vergangenem Jahr auch in Deutschland aktiv und sucht hier „Hauswächter“, derzeit hauptsächlich in Nordrhein-Westfalen. Direktor Remco van Olst hielt Ende letzten Jahres einen Vortrag über „Proaktive Leerstandsverwaltung – weniger Risiken, mehr Rendite“.

Für Abel Heijkamp liegt die Lösung auf der Hand: „Antikraak muss abgeschafft werden.“ Zunächst aber ruft sein Verband dazu auf, der 30-jährigen Tradition der unangekündigten Besuche durch die Kontrolleure einen Riegel vorzuschieben. Ende April tauschten Antikraaker in mehreren Städten ihre Wohnungsschlösser aus, um die Vermieter auszusperren. Wie die reagieren, bleibt noch abzuwarten. Merel würde sich gern beteiligen, macht sich aber Sorgen um die Folgen. „Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll. Eigentlich wollte ich nie mehr Antikraak wohnen, aber ich brauche doch ein Dach über dem Kopf.“