berliner szenen: Unser Bahnhof, unser Gleis
Nach dem gemeinsamen Wochenende begleite ich sie am Sonntagabend zum Bahnhof. Das ist zum Ritual geworden. Wir fahren mit dem Rad durch das Tempelhofer Feld und die Gartenstadt Neu-Tempelhof, die wir beide sehr mögen. Wenn die Zeit für ein letztes Bierchen reicht, trinken wir es gern in dieser Siedlung, am Adolf-Scheidt-Platz zum Beispiel, umgeben von Braut-spiersträuchern und Hortensien, während die Sonne untergeht.
Dann fahren wir den Werner-Voß-Damm hinunter, und in fünf Minuten sind wir am Südkreuz. Der ist so was wie „unser“ Bahnhof geworden, so wie das Gleis 5 „unser“ Gleis ist. Wir sind aber nicht die Einzigen, die sich dort am Sonntag verabschieden. Unserem Eindruck nach sind alle anderen große Männer mit kleinen Frauen, die auf Zehenspitzen stehend an ihren Hälsen hängen. Bei uns ist der Größenunterschied nicht so groß, dass ich an ihr hängen muss, doch wir halten uns trotzdem aneinander fest, Arm in Arm, und lassen uns nicht los, bis wir den letzten Ruf der Zugbegleitung hören. Nachdem die Zugtüren endgültig zu sind, folgen wir uns mit den Augen, während sie einen Sitzplatz sucht.
Wenn der Zug losfährt, tue ich so, als würde ich ihm hinterherrennen, um sie zum Lachen zu bringen. Oder ich nehme ein imaginäres Taschentuch aus meiner Tasche und winke. Einmal fragten wir uns, warum Taschentücher weiß sein müssen, wenn es um Abschied geht, eine Antwort fanden wir nicht. „Mein Taschentuch ist schwarz“, sagte ich.
Wenn der Zug aus meinem Blickfeld verschwindet, bleibe ich eine Weile stehen in der Hoffnung, dass er umkehrt. Um mich herum wird es leer, es passiert doch kein Wunder. Also mache ich mich auf den Weg nach Hause und bin nicht die Einzige, die schweren Herzens und seufzend die Rolltreppe hinauf nimmt. Luciana Ferrando
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