berliner szenen: Touristen nehmen alles
Meine Verabredung ist noch nicht da und ich schlendere die Friedrichstraße entlang. An der Ecke Taubenstraße ist ein kleiner Menschenauflauf. Auf dem Boden steht in Holzkisten Gemüse und Salate und jede Menge Milch und Joghurt in Plastikkästen. Eine Frau sagt: „Möchten Sie Milch oder Buttermilch?“ Ich sage: „Nein, danke.“ Wahrscheinlich weil mir eine innere Stimme mitteilt, nichts von Fremden anzunehmen. In Wirklichkeit, weil ich eine Milchunverträglichkeit habe. Ein junger Mann hat ein waldgrünes T-Shirt an, auf dem hinten steht: „Wenn schon die Welt untergeht, dann wenigstens lecker.“ So richtig lecker sieht das alles jedoch nicht aus, eher nach einer Lebensmittelverteilaktion für die Tafeln, nur ohne Arme. Die Frauen verteilen wie Robin Hood Milch an Notleidende: „Ist umsonst. Greifen Sie zu.“
Aber warum? Ich frage mich, ob die emsige Gruppe weiß, dass sie hier auf der Friedrichstraße ist und dass es hier nur Touristen gibt. Vielleicht will man sie vor der plötzlichen Dehydrierung bewahren, was aber unwahrscheinlich ist, denn in Berlin sind Touristen ohne Flasche in der Hand eine eher seltene Erscheinung. Zwei junge englische Touristen nehmen jeweils eine Buttermilch. Vielleicht aus Barmherzigkeit? Vielleicht weil sie nicht sicher sind, ob man sonst gegen die merkwürdigen Sitten und Gebräuche der Einheimischen verstößt. Vielleicht auch, weil Touristen alles nehmen, was sie kriegen können, wenn es umsonst ist. Da ich nicht dahinterkomme, was der tiefere Sinn dieser Aktion ist, gehe ich weiter, vorbei an einem überquellenden Mülleimer, darunter zerdrückte Plastiktüten und Tetrapacks.
Meine Verabredung will auch keinen Salat und keine Buttermilch. Vielleicht war es doch eine Touristenfütterung, um sie wieder nach Berlin zu locken, die Wirtschaft ankurbeln?
Klaus Bittermann
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