: Filmstars aus dem Schrotthaufen
Elfen aus Grützwurstpellen und alte Handfeger, die über die Arbeitswelt von heute diskutieren: Der Experimental- und Trickfilmer Franz Winzentsen sammelt seine Arbeitsmaterialien aus dem Schrott. Im Kunsthaus in Stade zeigt „Fake, Figuren und Fiktion“ seine Filme, Puppen und Installationen
Von Wilfried Hippen
„Ist das Kunst oder kann das weg?“ ist eine schon recht abgestandene Scherzfrage. Franz Winzentsen stellt sie auf den Kopf. Aus dem, was weg kann, macht der 1939 in Hamburg geborene Filmemacher Kunst. Er sammelt das, was andere wegwerfen, und nutzt es als Ausgangsmaterial für seine experimentellen Trickfilme und Kunstobjekte: alte Fotografien und Postkarten, Kämme, Papiertüten, Waschbretter – sogar Wattebäusche. Für seine Installation „Hautflügler“ hat er aus Wäscheklammern und Grützwurstpellen elfengleiche Flugwesen gebastelt. In seinem Animationsfilm „Die Konferenz oder Die Rückseite des Mondes“ aus dem Jahr 2012 lässt er Handfeger miteinander diskutieren, die er Jahrzehnte davor aus dem Schutt der ehemaligen Schraubenfabrik in den Hamburger Zeisehallen geborgen hatte.
Gefundenes umzudeuten, das ist das Grundprinzip von Winzentsens Arbeit. Und damit hat er sich vor allem als Kurzfilmemacher einen Namen gemacht. Inzwischen gilt er als der Elder Statesman der Experimental- und Trickfilm-Szene in Norddeutschland. Er reüssierte in den 1960er-Jahren, als er den Titelvorspann für die NDR-Spielfilmreihe „Monster, Mumien, Mutationen – Das Gruselkabinett“ gestaltete, der immer noch zu den Stilikonen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zählt. Danach produzierte, oder besser: bastelte er Kurzfilme in verschiedenen Trickfilmtechniken wie Lege-, Stempel-, Frottage-, Struktur- und Materialanimation, für die er regelmäßig auf Festivals und mit deutschen Kurzfilmpreisen prämiert wurde.
Es gab Ausstellungen mit seinen Artefakten und Retrospektiven seiner Filme, aber eine Werkschau, in der die immense stilistische Bandbreite seines Werkes vorgestellt wird, hat es bis jetzt noch nicht gegeben. Das holt nun das Kunsthaus mit der Ausstellung „Fake, Figuren und Fiktion – die bewegte Welt des Franz Winzentsen“ nach. Stade ist der richtige Ort für solch eine umfassende Retrospektive, denn seit den 1990er-Jahren lebt Franz Winzentsen, der als Professor an der Hamburger Hochschule für bildende Künste kein prekäres Leben als „freier Künstler“ mehr fristen musste, in einem stillgelegten Bahnhof in Kutenholz bei Bremervörde. Dort hat er ausreichend Raum, um seine vielen Sammlungen zu lagern und zu vergrößern.
Und Winzentsen ist durchaus ein Lokalpatriot, wie er 2009 mit seinem Kurzfilm „Die sogenannten Bremer Stadtmusikanten“ zeigte. In dem stellt er die These auf, dass das Grimm’sche Tierquartett gar nicht nach Bremen, sondern nach Bremervörde gezogen ist.
Dieser Spaß an alternativen, oft surrealen Deutungen des nur scheinbar selbstverständlich Bekannten macht den Reiz von Winzentsens Kunst aus. In seinem Kurzfilm „Flamingo. Aus meinem Animationstagebuch“ lässt er 1982 einen Schwarm von Papageien durch eine Waldlichtung fliegen. Als sie sich auf dem Boden niederlassen, verwandeln sie sich in Kaffeekannen, die dann von Jägern mit lautem Geschirrklirren „erlegt“ werden. In „Heimaturlaub. Aus dem Skizzenbuch eines Astronauten“ aus dem Jahr 2016 zeigt Winzentsen Bilder von einem Mann in einem Raumanzug mit geschlossenem Schutzhelm, der im Schlick an der Küste der Elbe steht oder in einem Lindenwäldchen ein Nickerchen hält
Diese Ölgemälde von Winzentsen hängen nun im Stader Kunsthaus an der Wand, während man dort vom Film selbst nur einen kleinen Ausschnitt auf einem winzigen Bildschirm sehen kann. Auch sonst werden nur wenige Filme gezeigt, denn die Kurator*innen des Kunsthauses sind eher an Winzentsen als Maler, Zeichner und Installationskünstler als an seinem filmischen Werk interessiert. So hängt in einem der drei Ausstellungsräumen eine Serie von zehn großformatigen Gemälden von norddeutschen Landschaften, die Winzentsen 2021 zu dem Film „Horizonte“ montiert hat.
Diese Entscheidung, wenige Leinwände und Monitore zu installieren und stattdessen mehr Gemälde, Zeichnungen und Artefakte zu zeigen, ergibt durchaus Sinn. Ein wenig mehr Kino hätte der Ausstellung dennoch nicht geschadet. Aber die Räumlichkeiten sind in dem eher kleinen Kunsthaus eben begrenzt, und Installationen wie „Tütenhäuser“, die aus zerknautschten und bemalten Papiertüten besteht, sind es auch wert, gezeigt zu werden
Eigenwillig ist dagegen die Entscheidung, etwa ein Drittel der Ausstellung dem Frühwerk Winzentsens als Figurenbauer, Puppenspieler und Kinderfilmemacher zu widmen. 1960 gründete er zusammen mit Freunden die experimentelle Puppenbühne „Rhabarber“, und in Stade ist mit dem „Bi-Ba-Butzemann“ eine seiner ersten Marionetten ausgestellt, die er aus Holzresten von Bäumen zusammenbaute, die bei der Hamburger Flutkatastrophe von 1962 umgestürzt waren. Auch hier war also der Künstler schon ein Sammler. Oder „ein friedlicher Jäger“, wie er selbst im Zusammenhang mit seiner Installation „Trophäen“ schreibt. Die sehen aus wie die Souvenirs von Großwildjägern, aber die Elefantenfüße entpuppen sich als Baumstümpfe und die Geweihe als Hühnerbrustbeine.
„Fake, Figuren und Fiktion – Die bewegte Welt des Franz Winzentsen“: Kunsthaus Stade, bis 31. 10.; http://museen.de/franz-winzentsen-stade.html
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