BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Besuch bei der Verwandtschaft

Mit Kindern im Zoo (Teil II): Menschenaffen leben auf dem geistigen Stand eines Dreijährigen. Sie sind also genial!

Ich gebe zu, es ist eine Sache der Perspektive. Meine Tochter Tina, ganz blonder Engel mit zierlicher Figur und Püppchengesicht, steht vor dem Gorillakäfig. Die Nase ganz dicht am Glas, die Augen weit aufgerissen. Auf der anderen Seite sitzt ein Gorillaweibchen – nennen wir sie Bombo. Mächtige Muckis an den Armen, ein interessierter Blick unter gewaltigen Brauen. Bombos rechte Hand liegt am Glas (ihre Mutter sollte ihr mal wieder die Fingernägel schneiden).

Es ist das klassische Bild: „Die Schöne und das Biest.“ Aber wer ist was? Für Bombos Mitgefangene Judy, die am hinteren Ende des Käfigs sitzt und unsere Hominidengruppe betrachtet, ist wahrscheinlich Bombo die Schöne. Und sie hat ja Recht. Manchmal ist Tina ein ganz schönes Biest.

„Hallo, Affe, ich bin Tina“, sagt Tina. Leider kann Gorillaweibchen Bombo sie nicht hören, denkt der Verhaltensforscher in mir. Zum Glück sind da ein paar Zentimeter Glas dazwischen, beruhigt sich der Vater in mir. Bei aller Idylle, die der symbolische Händedruck zwischen Tinas kleiner Hand an der Scheibe und Bombos mächtiger Pranke auf der anderen Seite symbolisiert, bin ich doch froh, dass die wildesten Tiere in Tinas Umgebung die Kopfläuse im Kindergarten sind.

Nicht alle Eltern sind so zimperlich. Die Fotografen Sylvie und Alain Degré haben ihre kleine Tochter Tippi in Afrika halb nackt unter Elefanten, Geparden und Krokodilen spielen lassen. Dem Kind wurde kein Härchen gekrümmt, und die Eltern haben fantastische Bilder von diesen Begegnungen gemacht. Ich habe mich noch nicht entschieden: Haben die Degrés einen Preis für Fotojournalismus verdient – oder doch eher ein Verfahren vor dem Familiengericht?

So rührend die Szene ist – wirklich überraschend ist sie nicht. Viele Primatenforscher sind der Meinung, dass die höheren Menschenaffen das Bewusstsein und den geistigen Entwicklungsstand eines dreijährigen Kindes haben. Das sagt sich so leicht. Aber wer mit Dreijährigen zu tun hat, der müsste sein Affenbild kräftig revidieren. Denn was kann Tina mit ihren drei Jahren: Sie kann alles sagen, was sie denkt – und noch einiges mehr. Sie kann bis 20 zählen. Das ganze Buch von der kleinen Hexe auswendig aufsagen. Sie kann ihre Oma dazu bringen, den Apfelsaft rauszurücken, ihren Bruder überreden, die versteckten Kekse zu suchen, und sie kann ihren Eltern Hitzeaufwallungen verursachen, wenn sie in der Öffentlichkeit „Kacka-Frau“ und „Scheiße-Papa“ sagt.

Man stelle sich vor: Bombo kann das alles auch. Und hat dazu noch Oberarme wie ein Turnweltmeister. Ihre Eltern sind nicht zu beneiden.

Wie ähnlich sind uns unsere Brüder und Schwestern von den Bäumen? Und wir ihnen? Bei den Genen sind es bis zu 99 Prozent. Je mehr wir über das Verhalten der Menschenaffen wissen, desto mehr erkennen wir uns selbst darin. „Die Menschen waren früher Affen“, erklärt Jonas seiner kleinen Schwester am Gorillakäfig. Da liegt er vielleicht näher an der Wahrheit, als er denkt. Viele Experten zumindest fordern für die Menschenaffen einen juristischen Status, der sie über die anderen Tiere wie Schweine und Kellerasseln erhebt. Affen zu töten, zu essen, zu fangen, zu dressieren und für die Forschung zu „verbrauchen“, sollte dann nicht mehr möglich sein. Das klingt ein bisschen überspannt? Was würde Sie von Gesetzen halten, die es erlauben, Kinder bis zum Alter von drei Jahren in den Suppentopf zu stecken?

Wenn man sich die Primaten unter diesem Aspekt betrachtet, sieht man plötzlich lauter Parallelwelten zur Gemeinschaft von Homo sapiens sapiens: Die Schimpansen sind die aggressiven Besserwisser, die Gorillas die introvertierten Muskelprotze und die Orang-Utans die voll gekifften Althippies. Und wenn ich ganz genau hinsehe, dann merke ich auch, was ein deutsches Menschenkind und ein afrikanischer Hochlandgorilla gemeinsam haben:

Beide sind vom Aussterben bedroht.

Nächste Folge: Der Kragenbär als Republikflüchtling

Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu Biestern? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN