Nicht nur Amöben sind asexuell

Seit kurzem gibt es auch in Deutschland ein Forum für „Asexuelle“. Verweigerer oder Verklemmte? Allein der Austausch zwischen Leuten, die keinen Geschlechtsverkehr haben wollen, ist schon ein Protest gegen sexuellen Leistungsdruck

VON BARBARA DRIBBUSCH

Zum ersten Treffen in Berlin kamen zwar nur zehn Leute. Aber fast 300 Interessierte beteiligten sich bislang an der Diskussion im Internet-Forum. Und „die Medienaufmerksamkeit ist groß. Wir bekommen ständig Anfragen von Journalisten, die Asexuelle interviewen wollen“, sagt Kati Maurer, Mitgründerin von AVENde. Dies ist das neue deutsche Internet-Forum für Leute, die, so die Eigendefinition, „keinen Wunsch“ hegen, „mit einer anderen Person Geschlechtsverkehr zu haben“. Die „Asexuellen“ machen neugierig – doch die Menschen mit ihren Gemütslagen, die sich dahinter verbergen, sind höchst unterschiedlich.

Die deutsche Website (www.asexuality.org/de), seit Januar diesen Jahres in Betrieb, versteht sich als Unterforum des amerikanischen Netzwerkes, das vor vier Jahren von dem Kalifornier David Jay gegründet wurde (www.asexuality.com). 1.500 User gebe es inzwischen weltweit, heißt es auf der amerikanischen Website. Das Netzwerk will der „Schaffung von Dialog zwischen und über die schnell wachsende Gemeinschaft von Individuen, die sich als asexuell identifizieren“, dienen, heißt es auf der deutschen Homepage. AVEN steht für „Asexual Visibility and Education Network“.

Die „vierte Orientierung“

Der Grundgedanke dabei ist, dass sexuelle Enthaltsamkeit weder als neurotisches Symptom noch als Unfähigkeit, eine PartnerIn zu finden, abzustempeln ist. Der Nicht-Sex soll vielmehr als freie Entscheidung begriffen werden, als „vierte Orientierung“ neben der Heterosexualität und der weiblichen und männlichen Homosexualität, sagt Maurer. Die 28-jährige Mitgründerin und Studentin aus Berlin, die auch einige Diskussionsforen der „Asexuellen“ moderiert, wehrt sich gegen das Vorurteil, Enthaltsame seien „prüde, frigide oder alte Jungfern“. Vielmehr fühle sie sich einfach nicht vom anderen oder dem eigenen Geschlecht sexuell angezogen. „Schon mit 21 Jahren wusste ich, dass ich keine Sexualität leben will, dass mich das abstößt“, berichtet Maurer, die ihren richtigen Nachnamen allerdings nicht in der Zeitung gedruckt sehen will, aus Angst vor übler Nachrede.

Um in die asexuelle Offensive zu gehen, gehört der Verkauf von einschlägigen T-Shirts in den USA zum Geschäft. Aufschrift: „Asexualität ist nicht mehr nur was für Amöben“. Man wolle mit dem Netzwerk auch „dem sexuellen Leistungsdruck begegnen, dem wir durch die Medien überall ausgesetzt sind“, erklärt Maurer. Sie begreift Asexualität als „angeboren“.

Angeborene Lustlosigkeit

In einer Umfrage unter 18.000 Briten gaben ein Prozent der Befragten an, sich noch nie von einem anderen Menschen sexuell angezogen gefühlt zu haben. Umgerechnet auf Deutschland wären es dann einige 100.000 Menschen, die hierzulande unter diese Definition der „Asexuellen“ fielen. Dass die Sache mit der Enthaltsamkeit aber komplizierter ist und nicht nur eine Frage der schlichten Selbstdefinition, erweist sich bei einem Blick in die Diskussionsforen von AVENde im Internet.

Dort nämlich ist das Netzwerk zum Sammelbecken geworden für Menschen, die keine Sexualität leben, aber darüber auch sehr verunsichert sind. Nicht anders als Leute mit Sex also, die sich ja auch ständig fragen, ob sie genug Sex haben, ob mit ihnen und ihrer Partnerschaft auch wirklich alles stimmt oder nicht.

Es posten bei AVENde interessanterweise vor allem jüngere Frauen. Für die 24-jährige „Sea“ in einem der Diskussionsforen etwa fängt Sex, den sie ablehnt, bei „Küssen mit offenen Mund“ an. „Das ist meine Grenze, das wäre mir dann schon zu viel.“ Für die 25-jährige „Cassiopeia“ sind „Zungenküsse und Streicheln“ zwar noch drin, aber sobald „ich Gedanken spüre, die im Zusammenhang mit dem Stecksystem stehen, ist mir schon jede Umarmung zu viel“.

„Jonas“ hingegen berichtet, dass er durchaus den Wunsch nach Geschlechtsverkehr verspüre, aber Angst habe, die Frau dabei zu schwängern. „Dada“ erzählt, dass wahrscheinlich seine schlimmen Erfahrungen in der Kindheit den „ersten Stein zur Asexualität“ gelegt hätten. Der 48-jährige „Misanthrop“ ist der Meinung, dass den „meisten Asexuellen hier am liebsten wäre, man könnte zweifelsfrei nachweisen, dass es sich um ein rein angeborenes Phänomen handelt“. Dabei spielten doch „bestimmte Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht, eine große Rolle.“

„Was genau bin ich?“

Verweigerer, Klemmis, Traumatisierte – der neue Sammelbegriff „Asexualität“ zieht sehr unterschiedliche Diskutanten an. Die Frage, wann genau man „asexuell“ sei, nimmt deshalb auch einen breiten Raum in den Postings ein. AVENde hat dazu einen Frage-und-Antwort-Bogen von der amerikanischen Website übernommen, der in seiner Definitionswut mitunter leicht komische Züge trägt: „Ich masturbiere, was also genau bin ich?“ ist eine häufig gestellte Frage.

In der Antwort erklären die AVEN-Berater: „Einige Asexuelle masturbieren und andere wiederum nicht. Der Unterschied zwischen Sexuellen und Asexuellen besteht darin, dass, wenn Asexuelle an andere denken, während sie masturbieren, dies reine Fantasie ist. Wenn ihnen wirklich die Möglichkeit gegeben wäre, mit dieser Person sexuell aktiv zu werden, gäbe es keine Anziehungskraft oder der Trieb wäre so gering, dass er vollständig ignoriert werden kann.“

Was aber passiert, wenn ich mich in andere Menschen verknalle? „Eine beträchtliche Anzahl von Asexuellen verliebt sich“, heißt es in der AVEN-Antwort, „emotionale oder romantische Anziehung ist nicht gleich sexuelle Anziehung. Viele Asexuelle reden von einem ‚Romantiktrieb‘. Sie wünschen sich, mit einer anderen, für ihr Leben bedeutsamen Person zusammen zu sein, nur dass die Intimität, die sie sich dabei wünschen, nicht sexueller Natur ist.“

Mit solchen Begrifflichkeiten gerät man schnell in Untiefen. Wenn ich beispielsweise nur mit einem Partner Sex habe und niemals jemand anderen begehre, bin ich dann asexuell? In der Antwort bieten die AVEN-Berater eine großzügige Auslegung an: „Wenn du Sex eher als Ausdruck romantischer oder emotionaler Anziehung (Liebe) denn als von einem Sextrieb veranlasst empfindest, dann muss das deiner asexuellen Identität nicht widersprechen.“

Das Spiel mit der Definition von „Asexualität“ beherrscht die Diskutanten also fast genauso wie das Gerede der „Sexuellen“ über diverse Praktiken in Websites, die sich mit dem Geschlechtsverkehr in allen Varianten beschäftigen. Innere Ruhe findet man offenbar nicht, wenn man sich einfach mal eben so als „asexuell“ identifiziert.

Für den Frankfurter Sexualmediziner Volkmar Sigusch sind die bekennenden „Asexuellen“ denn auch eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits biete allein schon die Existenz dieser Interessengruppe Entlastung vom allseits verordneten sexuellen Leistungsdruck. „Wir leben ja noch überwiegend in dem Wahn, der, fachlich gesprochen, eine gigantische soziale Konstruktion ist, dass alle Menschen sexuelles Verlangen haben und haben müssen“, so Sigusch.

Ein seltenes Phänomen

Andererseits berichtet Sigusch aus seiner klinischen Praxis, dass er nur „ganz, ganz selten“ gesehen habe, dass ein „körperlich gesunder Mensch noch nie eine sexuelle Regung gespürt hatte, weder seelisch noch körperlich“.

Dass das Nichtleben irgendeiner Sexualität für viele Menschen nach wie vor Leiden bedeutet, zeigt sich bei einem Blick in eine andere Website, die der „absolute beginners“ (www.ab-homepage.de.vu/), kurz „AB“ genannt. In den Foren dort melden sich vor allem Männer, die schüchtern sind, bei Frauen keinen Erfolg haben und deswegen noch nie Sex hatten, also unfreiwillige „männliche Jungfrauen“.

Jemand mit dem Netznamen „Unloved“ beispielsweise klagt in einem Forum: „Gestern wurde mir von Verwandten gesagt: ‚Ja du warst ja immer schon ein sehr nachdenklicher Typ.‘ So ein Blödsinn, das war ich nie, dazu wurde ich gemacht von der Gesellschaft. Und zwar deshalb, weil ich extremen Misserfolg bei Frauen habe. Wessen Selbstbewusstsein so im Arsch ist, der wird zwangsläufig ‚nachdenklich‘. Habt ihr auch manchmal den Eindruck, dass von Bekannten oder Verwandten irgendetwas in euch reininterpretiert wird? Mensch, die müssen sich doch daran erinnern, dass ich bis Mitte 16 genau das Gegenteil war.“

Auf der Kuschelschiene

Unter den „männlichen Jungfrauen“ finden sich viele Männer, die von Frauen zwar gerne als Kumpelfreund, nicht aber als Sexpartner akzeptiert werden. So schreibt „Sissifuss“: „Liebes Forenvolk. Da bin ich wieder. Die letzten Tage haben mir einige sexuelle Erfahrungen beschert. Geschlechtsverkehr im engeren Sinne gab es jedoch nicht. Sie ist sich unsicher, ob sie nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund schon wieder eine Beziehung will. Ich würd’ sagen, das wird ’ne Kuschelschiene.“

Eine Studie in Westdeutschland vor einigen Jahren ergab, dass jeder zehnte Mann im Alter von 30 Jahren noch nie Sex hatte. Die Wirklichkeit sieht also ziemlich anders aus als von den Medien propagiert. Vielfältiger eben.