berliner szenen: Beratung fürs Leben gesucht
Es ist Samstagabend gegen zehn. Ich komme aus Neukölln von einem Konzert des Gitarren Ensembles von G. und habe kurzfristig beschlossen, doch nicht weiter, sondern nach Hause zu fahren. Jetzt stehe ich auf dem U-Bahnhof Berliner Straße und blicke aufs Handy. Auf der Bank neben mir nimmt ein alter Mann Platz. Er hält ein Programmheft in der Hand und lächelt die junge Frau neben ihm an. „Guten Abend“, sagt er zu ihr. „Ich muss mich mal setzen.“
„Kein Problem“, lächelt sie zurück und streicht den Rand ihres Kopftuches gerade. „Ich war in der Staatsoper“, erklärt der Mann und hält das Programmheft hoch.
„Ach“, sagt die junge Frau „und hat es Ihnen gefallen?“ Der Mann nickt. „Doch, war ein schöner Abend. Carmen“, sagt er. Die junge Frau nickt.
Es ist eine Weile still. Man hört Stimmengewirr aus einem Handy etwas weiter den Bahnsteig runter. Da sagt die junge Frau plötzlich zu dem alten Mann: „Darf ich Sie etwas fragen?“ „Aber bitte!“, sagt er. „Was würden Sie mir heute mit auf den Weg geben?“
„Na, ich würde Ihnen ein schönes Wochenende wünschen“, sagt der Mann wie aus der Pistole geschossen. „Ach so, nein“, sagt die junge Frau und lächelt. „Ich meinte, einen Ratschlag fürs Leben.“
Ich sehe sie überrascht an. Diese Frage habe ich nicht erwartet. Der alte Mann wohl auch nicht. Er streift kurz meinen Blick, dann sagt er nachdenklich: „Einen Ratschlag fürs Leben.“ „Ja“, nickt sie. „Gibt es etwas, das Sie mir raten würden?“
„Sich nicht zu verbiegen“, sagt der alte Mann. „Man muss sich morgens noch im Spiegel ansehen können.“ Sie sieht ihn erwartungsvoll an, bis er sagt: „Das war’s. Mehr nicht.“ „Okay, danke schön“, sagt sie und steht auf. Die U-Bahn fährt ein. Die junge Frau nimmt eine andere Tür als der alte Herr und sieht dabei seltsam enttäuscht aus. Isobel Markus
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