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Archiv-Artikel

Ein Karamell aus Krach

Angst, brüllende Langeweile, ein Musik gewordener Hilfeschrei: Dinosaur Jr., die echten Dinosaur Jr., waren in Berlin. Sie waren so laut wie früher, so brachial wie früher und so zuckersüß wie früher. Alle waren glücklich. Auch die Band

Man kann es noch gar nicht so recht glauben: Dinosaur Jr., die echten, wahren und einzigen Dinosaur Jr., es gibt sie wieder. Sie sind auf Comeback-Tour und heute Abend im Postbahnhof in Berlin. Verwirrung, seltsame Gefühle. Werden sie es noch bringen nach all den Jahren? Mit zittrigen Händen kramt man „You’re living all over me“ von 1987 aus dem Regal, die, ach, sagen wir es doch, wie es ist: beste Gitarrenrockplatte aller Zeiten. Man legt sie auf, und sofort ist wieder alles da: die Angst, die brüllende Langeweile, dieser Musik gewordene Hilfeschrei. Man muss lauter drehen, es geht nicht anders, denn gleich kommt wieder eine der orkanartigen Gitarren, die einen hinforttragen und euphorisieren wie frische Liebe.

Dennoch: Werden sie es noch bringen nach all den Jahren? Die Geschichte von Dinosaur Jr. ist schließlich kompliziert und traurig und macht eigentlich wenig Hoffnung auf ein gelungenes Comeback. Die Band hat es in ihrer Originalbesetzung gerade mal auf drei gemeinsame Platten gebracht. Dann war, Ende der Achtziger, Schluss. J Mascis und Lou Barlow, die beiden Köpfe der Band, hatten sich hoffnungslos zerstritten, redeten, so hieß es, jahrelang kein Wort miteinander. Dann stieg Barlow aus. Er gründete Sebadoh, wurde nochmals ein Star der Indieszene, feuerte aber immer wieder in Worten und Songs gegen seinen alten Kumpel Mascis. Der machte erst mal weiter mit Dinosaur Jr., aber Grunge wurde zur Massenbewegung, und Dinosaur-Jr.-Epigonen wurden reich und berühmt. J. Mascis mutierte langsam zum zu früh gealterten Kauz, der in Interviews keinen vernünftigen Satz mehr sagen konnte. Doch nun die Versöhnung, das Happyend einer Seifenoper, auch wenn es Gerüchte gab, die besagten, Barlow und Mascis würden zwar wieder miteinander spielen, jedoch immer noch nicht miteinander reden. Das ist aber auch egal. Zwei sinnlos Zerstrittene stehen wieder gemeinsam auf der Bühne – das ist doch schön. Dennoch musste man nochmals wütend werden auf die beiden, als es dann losging mit dem Konzert. Denn, ja, sie brachten es noch, warum also haben sie sich nicht schon früher zusammenraufen können?

Dinosaur Jr. waren unfassbar gut. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, und sie knüpften direkt da an, wo sie vor 15 Jahren aufgehört hatten. J. Mascis sieht heute aus wie ein Schamane mit seinen langen Haaren und dem fahlen Babygesicht. Lou Barlow dagegen wirkt mit seinem Wuschelkopf und der Brille immer noch wie ein Student. Aber es passte, alles passte. Sie waren so laut wie früher, so brachial und gleichzeitig zuckersüß wie früher. Mascis kam von seinen Feedback- und Wah-Wah-Pedalen gar nicht mehr herunter, und der ganze liebliche Krach, diese karamellisierten Gitarrenwände, der typische und bis heute in dieser Konsequenz einmalig gebliebene Dinosaur-Jr.-Sound, er presste sich uns entgegen und nahm uns die Luft. Die Band wusste, dass sie nichts zu verlieren hatte, sie wollte keine Gefangenen machen, gab alles, genau so, wie wir es uns erträumt hatten. Alle waren glücklich, auch die Band.

Lou Barlow, ein legendär schlecht gelaunter Typ, immer meckrig, nie zufrieden, war geradezu locker, machte launige Ansagen und schien in den Brüllstücken den Frust der letzten Jahre herauszubrüllen. In J. Mascis’ Gesicht war nichts abzulesen. Doch wenn wir seine enthemmten Fuzzgitarren, die sich dem siebten Himmel entgegenreckten, richtig deuten, war an diesem Abend mit sich und der Welt im Reinen. ANDREAS HARTMANN