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Absurditäten der Arbeitswelt

Mit langem Atem erzählte Fotografie-Dokumentationen – das ist, was der Wüstenrot-Preis fördert. Zu sehen sind die Ergebnisse der siegreichen Projekte in Braunschweig

Von Bettina Maria Brosowsky

Die Ausstellung erinnert auch daran, wie sehr die Gründung des Museums für Photographie in Braunschweig seinerzeit eine Pioniertat war: Dass die Preisträger des 1994 ins Leben gerufenen von der Wüstenrot-Stiftung und dem Essener Fokwang Museum vergebenen Förderpreises für Dokumentarfotografie seit jeher hier gezeigt werden, liegt auch daran, dass damals weder in Berlin noch in Hamburg eine vergleichbare Institution auch nur in Planung gewesen wäre. Das Braunschweiger Museum hingegen wurde bereits am 2. Mai 1984 von einer Handvoll privater Foto-Fans als klassischer Kunstverein gegründet. Aktuell kann der Verein auf gut 150 verlässliche Mitglieder zählen.

Mit dem Preis werden alle zwei Jahre Foto-Ab­sol­ven­t:in­nen, die sich dem langen Atem komplexer Bildgeschichten verpflichtet fühlen, ausgezeichnet. Im 13. Durchlauf, der 2020 ausgelobt worden war, wurden vier Be­wer­be­r*in­nen geehrt. Das Procedere ist immer ähnlich: Ab­sol­ven­t:in­nen können sich mit ihrer Abschlussarbeit bewerben, oder Hoch­schul­leh­re­r:in­nen der einschlägigen Ausbildungsstätten schlagen Kandidat:in­nen vor. Eine internationale Jury wählt daraus in der Regel diejenigen aus, die Geld bekommen, um im zeitlichen Anschluss ihre Projekte umzusetzen. Thema 2020 war „Arbeit“ – ein Sujet mit langer Tradition in der fotografischen Dokumentation, im Gegensatz zum Bewegtbild des Films.

Aber: was ist heute eigentlich Arbeit, besser: Erwerbstätigkeit? Wie viele Bereiche des täglichen Lebens hat sich auch dieser Teil unserer Existenz radikal geändert. Heroische Bilder gewerkschaftlich organisierten Industrieproletariats am Werkstor oder während seiner schweißtreibender Maloche an schweren Maschinen: zumindest in Deutschland ließe sich heute so etwas nicht mehr produzieren – und fehlt somit in allen vier ausgestellten Förderprojekten. Am ehesten noch nähert sich Heiko Schäfer, Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf, der industriellen Arbeit in einer Krefelder Textilweberei an, festgehalten mit seiner Schwarz-Weiß-Bildreportage „Disziplinierte Produktion“.

Aber er bricht das Thema bereits auf: Seine, durch Krankheit zusätzlich beeinträchtigte, Protagonistin arbeitet in einem prekären Beschäftigungsverhältnis und ist auf eine weitere Tätigkeit angewiesen. Als Grund derartigen Übels macht Schäfer die „Agenda 2010“ fest, die seit fast 20 Jahren einen Niedriglohnsektor in Deutschland etabliert hat. Schäfers Interesse gilt deshalb auch dem Phänomen der Tafel, in diesem Fall den „Krefelder Engeln“, die den sozialen Missstand durch Lebensmittelspenden verwalten, der Selbsthilfegruppe „Die KEAs“, die Rechtsberatungen durch die Hartz-IV-Bürokratie der Jobcenter anbietet und in einem Gespräch der Aktivistin Inge Hannemann, die einst als Mitarbeiterin beim Jobcenter Hamburg-Altona die Sanktionspraxis verweigerte. Schäfer deckt so Strukturen einer noch konventionell anmutenden Arbeit auf, die aber niemanden mehr mit Stolz und Selbstbestätigung, geschweige denn, einem Lebensinhalt zu erfüllen vermag.

Prekär: Derart sind, so kann es eigentlich je­de:r wissen, die Arbeitsverhältnisse in der Textilindustrie in Südostasien. Die Produktion nicht nur unserer Billigmode ist seit Jahren in dortige Sweatshops ausgelagert, mit Katastrophen wie 2013 dem Einsturz der Rana Plaza Textilfabrik in Bangladesch, der weit über tausend Opfer forderte. Wie sehen die Arbeitsbedingungen heute aus? Sabrina Asche, Absolventin der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, recherchiert und arbeitet seit Jahren zum Thema, aber nicht als distanzierte Beobachterin.

Sie lebt seit 2014 immer wieder in Bangladesch, gab dort acht Textilarbeiterinnen Kameras in die Hand und ließ sie fotografieren. Über 3.000 Bilder mit schriftlichen Notizen entstanden – aber keines zeigt die Arbeitssituation, vermutlich nur in Nuancen gegenüber 2013 verbessert, selbst wenn die Frauen oft die Ernährerinnen ihrer Familien sind. Asche hat aus dem Bildmaterial eine große Installation gefertigt, teils mit Ausdrucken der Fotos auf dem leichten Futterstoff westlicher Kleidung. Sie will damit auch die „vestimentäre Kommunikation“ ins Visier nehmen, also nonverbale Äußerungen über Codes und Statusbotschaften einer sozialspezifischen Kleidung, die sich natürlich wenig um Produktionsbedingungen schert.

Mit einer großen Installation arbeitet auch Luise Marchand. Ebenfalls Absolventin der Leipziger Hochschule ist sie in Berlin in die neuen, perfekt emotionalisierten Arbeitswelten eingetaucht. In diesem „New Work“ scheint es noch nicht einmal mehr ansatzweise um Produktion zu gehen, es sei denn um die Herstellung eines „Wir-Gefühls“ und der „Liebe zum Team“, von der Marchand zufolge ständig die Rede sei.

In einem Video hat sie das „On-Boarding“, eine Art Aufnahmeritual, in eine dieser Firmen über sich ergehen lassen und zugleich dokumentiert, und sei es, beim Robben durch den Schlamm, per Helmkamera. Um den Film zu genießen muss man sich allerdings auf einer Liege ausstrecken und hat den Bildschirm dann direkt über dem Kopf. Begleitende digitale Collagen widmen sich den vielen typischen Zusatzangeboten am Arbeitsplatz, etwa frischem Obst – mögen die Mitarbeitenden so auf ewig jung bleiben.

Recht klassisch wiederum kommt die Arbeit von Wenzel Stählin daher, fast müßig zu erwähnen: auch er studierte an der Leipziger Hochschule. In Schwarz-Weiß geht er dem Verhältnis vom menschlich männlichen Körper zur nach wie vor männlich dominierten Architektur nach. Schon antike Theoretiker wie Vitruv zogen Parallelen zwischen Statur und Statik des Körpers und Tektonik des Bauens. Le Corbusier erfand ab 1942 sein anthropometrisches Maßsystem, den Modulor, ausgehend vom 1,83 Meter großen Mustermann, das er in seinen Bauten allerdings nonchalant unterlief. Stählin konfrontierte nun Architekturmodelle aus der Sammlung der TU München mit seinem nackten Körper oder Gesten der Hände, verleiht dem männlichen Selbstverwirklichungsdrang qua Architektur dadurch eine theatralische Absurdität – ein Wesenszug, der dieser Generation Dokumentarfotografie ja nicht ganz fremd zu sein scheint.

Wüstenrot-Förderpreis, Museum für Photographie, Braunschweig. Bis 18. 6.

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