: Bandengewalt und Lynchmorde
In Haiti beherrschen Banden große Teile der Städte. Bürgerwehren gehen gegen sie vor. Der UN-Generalsekretär fordert eine internationale Eingreiftruppe, aber kein Land will die Führung übernehmen
Die Bewohner von Vororten der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince nehmen den Kampf gegen Verbrecherbanden inzwischen selbst in die Hand. Angesichts einer oft überforderten Polizei verbrachten Dutzende Männer im Bezirk Canapé Vert die Nacht zum Mittwoch mit Macheten, Flaschen und Steinen bewaffnet auf Dächern und patrouillierten an Eingängen ihrer Gemeinde.
Zudem blockierte die selbst ernannte Bürgerwehr die Pforten mit Lastwagen, auf denen die Worte „Nieder mit Gangs“ aufgesprüht waren. „Wir beabsichtigen, zu kämpfen und unsere Nachbarschaft von diesen Barbaren sauber zu halten“, sagte der Mechaniker Jeff Ezequiel der Nachrichtenagentur AP.
Erst am Montag war Canapé Vert zum Schauplatz brutaler Selbstjustiz geworden. 13 mutmaßliche Bandenmitglieder wurden nach Angaben von Augenzeugen und der Polizei gesteinigt oder bei lebendigem Leibe verbrannt. Beamte hatten zuvor einen Minibus angehalten und nach Schmuggelware durchsucht, doch zerrte ein Mob die verdächtigen Insassen laut einem Augenzeugen von der Polizei weg und tötete sie. Die Männer seien „leider von Mitgliedern der Bevölkerung gelyncht worden“, erklärte die Polizei. Zuvor hatten Gangmitglieder Häuser geplündert und Bewohner angegriffen.
Schon zu Jahresbeginn hatten Menschen andernorts in Port-au-Prince und der zentralhaitianischen Region Artibonite mehrere mutmaßliche Gangmitglieder gelyncht.
Die jüngsten Ereignisse werfen ein grelles Schlaglicht auf die dramatische Lage in Port-au-Prince, wo Verbrecherbanden seit der Ermordung von Staatschef Jovenel Moïse im Juli 2021 an etlichen Orten ungehindert ihr Unwesen treiben. Experten schätzen, dass inzwischen bis zu 80 Prozent der Hauptstadt in der Gewalt von Gangs sind.
Der Vorort Canapé Vert und das nahegelegene Turgeau, wo sich eine bekannte Hotelkette und eine Universität befinden, sind zwar bisher von der Bandengewalt weitgehend verschont geblieben. Doch warnte der UN-Sicherheitsrat in einem am Dienstag veröffentlichen Report, dass die Expansion der Banden in bislang als sicher eingestufte Gegenden alarmierende Ausmaße angenommen habe. Bewaffnete Banden konkurrieren demnach weiterhin darum, „ihre territoriale Kontrolle im Großraum Port-au-Prince auszuweiten“. Die Gewalt breite sich dadurch auch in bisher nicht betroffene Stadtviertel aus, hieß es.
Angesichts der hohen Todeszahlen und einer zunehmenden Zahl von Stadtvierteln unter der Kontrolle bewaffneter Banden „hat die Unsicherheit in der Hauptstadt ein Niveau erreicht, das mit Ländern in bewaffneten Konflikten vergleichbar ist“, warnt der Bericht. Die Zahl der Mordfälle in Haiti ist demnach in den vergangenen Monaten um 21 Prozent auf 815 im ersten Quartal des Jahres gestiegen. Die Zahl der Entführungen stieg im gleichen Zeitraum um 63 Prozent auf 637.
Der Bericht verweist auch auf die Situation von Bewohnern des Elendsviertels Cité Soleil im Hafengebiet. Dort haben zuletzt Scharfschützen von Dächern aus Passanten auf der Straße erschossen. „Die Bewohner fühlen sich belagert. Sie können ihre Häuser aus Angst vor bewaffneter Gewalt und dem von den Banden ausgeübten Terror nicht mehr verlassen“, erklärte das Büro für UN-Nothilfekoordination für Haiti.
UN-Generalsekretär António Guterres bekräftigte die „dringende Notwendigkeit der Entsendung einer internationalen Spezialeinheit“ nach Haiti. Nach einem entsprechenden Appell im Oktober hatten zwar mehrere Länder ihre Bereitschaft signalisiert, sich an einem solchen Einsatz zu beteiligen. Es übernahm aber kein Land die Führung. (ap, afp)
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