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Archiv-Artikel

„Sie hat hier mal gelebt. Punkt“

AUS TEMPLIN JOHANNES GERNERTUND BERND HARTUNG (FOTOS)

Templin liegt in Brandenburg, hat 17.800 Einwohner, ein rosa Rathaus, ein mildes Reizklima und 43 SPD-Mitglieder. Drei davon arbeiten auf dem „Waldhof“, einer evangelische Einrichtung für geistig Behinderte, darunter Wolfgang Seyfried, der pädagogische Leiter. Er hat sein Büro im „Pappelhaus“. Ein paar Schritte weiter steht das „Haus Fichtengrund“, und wenn er daran vorbeigeht, muss Seyfried manchmal an die Bundestagswahl im Herbst denken. Hier hat Angela Merkel gewohnt, im Obergeschoss, als sie mit Nachnamen noch Kasner hieß. Deshalb stehen vor dem Haus oft Fotografen und Fernsehleute. Manchmal filmen sich auch verschiedene Kamerateams dabei, wie die jeweils anderen gerade filmen. Vielleicht wird am Haus Fichtengrund in hundert Jahren eine Gedenktafel hängen: „Hier wohnte einst die erste deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.“

Wolfgang Seyfried wäre das eher nicht so recht. Und eigentlich wäre es an ihm und seinen Genossen, jetzt ordentlich etwas dagegen zu unternehmen. Seyfried ist der Ortsvorsitzende der Templiner SPD. Wenn ständig Journalisten mit ihren Kameras direkt am Arbeitsplatz eines SPD-Aktivisten nach den Wurzeln einer künftigen CDU-Kanzlerin suchen, müsste er sich da nicht denken: Nein, das darf nicht sein? Müsste er sich nicht hinsetzen und schon mal eigene Wahlplakate entwerfen, wenn die aus der Parteizentrale noch keine runter an die Basis schicken? Müsste er nicht heiß sein auf diesen Wahlkampf? In einem Ort, wo es zwar genauso schwer ist, für Gerhard Schröder zu werben wie anderswo, aber dafür umso leichter wäre gegen den Merkel-Kult einzutreten. Aber Seyfried sagt: „Im Augenblick sind wir da drauf nicht wirklich eingestellt.“

Es gibt da ein paar Hindernisse in der Templiner SPD. Nicht nur die Umfragen, die miese Stimmung, die vielen Arbeitslosen, die Wahlalternativen. Vor allem: die Sommerpause. Im Juli und im August wollten die Genossen pausieren und die monatlichen Treffen ausfallen lassen. Weil der Parteichef Neuwahlen angekündigt hat, werden sie das überdenken müssen. Keine einfache Entscheidung, aber grundsätzlich scheint den meisten Urlaub lieber. Daran wird auch die Merkel’sche Allgegenwart nichts ändern.

Wahrheiten gegen Merkel

„Im Moment wäre es ja unrealistisch zu sagen: Det Ding gewinnen wir“, sagt Wilfried Paesler, der Templiner Kreistagsabgeordnete. „Die Umfrageergebnisse sind nun mal so.“ Vor ein paar Jahren noch war der Wahlkreis 57 den Sozialdemokraten sicher. Ergebnis bei der Bundestagswahl 2002: 48,6 Prozent der Zweitstimmen für die SPD. Es war also schon mal aussichtsreicher, sozialdemokratischen Wahlkampf zu machen. „Die Leute wollen das ja nun nicht wahrhaben“, sagt Paesler, „die Wahrheit will einfach keiner hören. Wer die Wahrheit sagt, der hat die falschen Karten.“ Und dann sagt Wilfried Paesler die Wahrheit, wie er sie sieht: „Man muss doch große Einschnitte in Kauf nehmen.“ Das heißt für ihn: „Die Reformen müssen weitergemacht werden.“

Wilfried Paesler war Bauunternehmer, bis vor kurzem. Er sitzt für die SPD im Kreistag in Prenzlau, einer von zwei Templiner Abgeordneten. Bis 1999 gehörte auch die Genossin Kasner zu seiner Fraktion. Die Frau, die Angela Dorothea Kasner nicht lange nach ihrer Geburt in einer Tragetasche von Hamburg in die Uckermark transportierte. Angela Merkels Mutter war nach der Wende erste Kreistagspräsidentin. Jetzt, in Zeiten von Merkel-Mania, hebt Herlind Kasner das Telefon gar nicht mehr ab.

An diesem Morgen scheint die Sonne in den Paesler’schen Wintergarten. Auf die Porzellanfiguren hinter den Fenstern, auf das graue Blümchensofa, auf Paeslers hellrotes Hemd und die Hose mit den Golferkaros. Wilfried Paesler spricht leise und bedächtig. Sein Gesichtsausdruck wirkt fast ein bisschen gequält. Manchmal schweigt er eine Weile und denkt nach. Ein ernster Mann, sein R manchmal so hart wie das von Müntefering, nur aus einer anderen Gegend.

An Gerhard Schröder hat Paesler nichts auszusetzen. „Für mich steht fest, dass er das Beste für Deutschland will“, sagt er. Wenn es in diesem Land trotzdem nicht so läuft, wie man sich das vielleicht wünschen würde, dann hat das Wilfried Paesler zufolge einen einfachen Grund, und das sagt er jetzt etwas lauter und sehr deutlich: „Es geht nicht besser. Ich muss Ihnen das so sagen.“

Zwei Gründe nennt er dafür. „Punkt eins“, sagt Wilfried Paesler, „die Globalisierung.“ Die Produktion geht ins Ausland. „Punkt zwei“, und das ist nun ein bisschen weniger erwartbar: „Die ständige Erhöhung der Rohstoffpreise.“ Die Bevölkerung muss noch mehr Geld ausgeben, das Geld steht nicht für anderen Konsum zur Verfügung. Steuern weiter senken ist keine Lösung, findet Paesler. Steuern sind unter Rot-Grün schon tief genug gesunken, das hat auch nichts geändert. Außerdem muss der Staat einfach Steuern einnehmen. „Das ist ja keine Erfindung von SPD und Grünen, dit haben ja nun andere eingeführt.“

Wilfried Paesler ist ein vernünftiger Mann. Er sieht Sachen ein. Als Unternehmer hat er eingesehen, dass der Nachwende-Bauboom irgendwann vorbei war. Also hat er seinen Betrieb abgemeldet und ist in Ruhestand gegangen. Das hat ihn 7,5 Prozent seiner Rente gekostet. Er ist jetzt 63 Jahre alt. Aber es ist ja so: Vor der Wende gab es in Templin drei Kaufhallen. Jetzt gibt es über zehn Supermärkte. „Man kann ja nicht sagen, es soll mehr gebaut werden.“ Es ist eben alles gebaut worden.

Sicherlich ist es einfacher, Sachen einzusehen, wenn man eine Sauna hat im Keller, einen Audi A6 in der Auffahrt stehen und immerhin noch 92,5 Prozent Rente. Trotzdem wäre es doch schöner gewesen, hätte der Sohn die Firma übernommen und nicht aus Angst ein Ein-Mann-Unternehmen gegründet. Wilfried Paesler hätte ähnlich viel Anlass wie viele andere, auf die Regierung zu schimpfen. Stattdessen sagt er: „Die Sache der gerechten Verteilung, dit scheint mir der Punkt zu sein, dit, würde ich sagen, könnte vielleicht die SPD am besten.“

Wolfgang Seyfried, der Ortsvorsitzende, hat dafür ein Beispiel. Die Vorschläge der CDU, „mal so locker-flockig“ den Feiertagszuschlag zu streichen, die würden im „Waldhof“ viele Mitarbeiter treffen. Alles Frauen, die Behinderte betreuen. Notfalls auch an Weihnachten, Ostern, Silvester. Wenn es sein muss, sonntags. Den „Frauenfaktor Angela Merkel“ kann Seyfried in solchen Plänen nicht erkennen.

Es nervt ihn auch ein bisschen, dass Templin plötzlich diesen Ruf hat „der Merkel-Ort“ zu sein. „Sie hat hier mal gelebt. Punkt. Wo ist denn jetzt ihr Wahlkreis, bitteschön? Meinem Kenntnisstand nach jedenfalls nicht hier.“ Merkels Wahlkreis ist an der Ostsee: Stralsund – Nordvorpommern – Rügen. In Uckermark-Barnim I dagegen wird Jens Koeppen für die CDU antreten, ein Antennentechniker. Letztes Mal war es noch Henryk Wichmann, sein Wahlkampf wurde hinterher in einem Dokumentarfilm in den Kinos vorgeführt.

„Herr Wichmann von der CDU“ verzichtet diesmal. „Den Filmstar“, nennen ihn manche im Ortsvorstand. Seyfried kennt den jungen CDUler nicht aus dem Kino, sondern aus dem Kreistag. Er sieht „Entwicklungsbedarf“.

Der Ortsvorsitzende hat ein paar Themen, mit denen, glaubt er, könnte man Wähler von der SPD überzeugen. Die Atomenergie beispielsweise, zu der die CDU zurückkehren würde, da „gruselt’s“ ihm davor. Auch wenn er sich daran erinnert, wie „Frau Merkel“ plötzlich die UNO egal war, als es darum ging, Amerika in den Krieg zu folgen, wie sie einfach gesagt habe „da marschieren wir mit“. „Und die Frau kommt aus kirchlichem Hause“, ruft Seyfried. Er hat in der DDR den Kriegsdienst verweigert. Solche Fragen sind ihm wichtig. Trotzdem hört sich das an wie „Sommer 2002“. Mit dem Irakkrieg wird diese Wahl wohl eher nicht gewonnen

Kanzlerschelte am Egepfuhl

Entsprechend skeptisch betrachtet man deshalb auch die Lage am Ufer des Egepfuhls, einem Tümpel nahe der SPD-Stammkneipe Petersilien-Bar. Die Petersilien-Bar hat vorübergehend geschlossen, ohne dass die Sozialdemokraten davon wussten. Deswegen sitzt Wolfgang Seyfried jetzt auf einer blauen Bank vor dem Egepfuhl. Um ihn herum stehen eine Hand voll Genossen und schlagen nach Mücken. Sie haben gerade die Delegierten bestimmt für die Wahlkreiskonferenz zur Kandidatennominierung. Thomas Frese, der ehemalige Ortsvorsitzende, schimpft auf Schröder, den Egomanen. So einer wie der könne 140 Jahre Parteigeschichte in die Tonne kloppen. Unter Freses Vorsitz haben sie gegen Hartz IV protestiert. Für Schröder will er keinen Wahlkampf machen. Man müsse jetzt schleunigst den Kanzlerkandidaten wechseln.

Jürgen Singer, der Apotheker, sagt, Schröder sei nach der Wahl eh weg vom Fenster. Dann könne man sich immer noch neu orientieren und neu nachdenken. Singer jedenfalls wird erst mal in Urlaub fahren. Vielleicht machen sie jetzt wirklich Sommerpause, so wie das geplant war. Wahlkampf funktioniert wegen der schlechten Stimmung sowieso nur mit Polizeischutz, witzelt einer.