berliner szenen: Lieber Sauerteig als Reichstag
Wenn Freunde vom Dorf ins große Berlin kommen, dann plant man akribisch die wichtigsten Sightseeing-Orte. Man durchblättert den noch jungfräulichen Reiseführer, freut sich, selbst all das zu sehen, was nicht zwischen Wohnung und Arbeit liegt, und wägt sich in der Gewissheit, die Gäste seien genauso interessiert an den bekanntesten Hotspots, den legendärsten Clubs wie man selbst. Manchmal im Leben muss man eines Besseren belehrt werden.
Der erste Morgen bricht an, und man selbst will keine Minute ungenutzt lassen, da zieht der Besuch seine Augenbrauen hoch und flötet: „Vor zehn müssen wir nicht los. Vorher gibt es da sowieso kein Brot.“
Bitte was? „Bei dem Bäcker, zu dem wir unbedingt wollen. Der backt Sauerteigbrot, das kriegst du nirgendwo sonst.“
Ermattet sinke ich auf einen Küchenstuhl. Aber, setze ich an, Reichstag, Humboldt Forum, Museumsinsel, Tageskarte. „Zu dem Bäcker muss man, wenn man in Berlin ist! Hat jeder in seiner Instastory.“
Blass lasse ich den Besuch ziehen. Nachdem er 45 Minuten im Regen auf das frische Sauerteigbrot gewartet hat, weil die Schlange so lang war, kommt er am frühen Mittag zurück und ist sich sicher, aus der Ferne den bekanntesten Twitterer unserer Generation bei dem Bäcker angetroffen zu haben. Wo sollte der schließlich sonst sein Brot kaufen?
„Dieser Sauerteig ist wahnsinnig gesund und leicht verdaulich!“ Das ist also das, was Leute über fünfzig meinen, wenn sie sagen, meine Generation habe weder Kultur- noch Genussbewusstsein, denke ich verbittert. Alkohol ist nicht leicht verdaulich, wende ich ein. Können wir dann heute Abend doch nicht rausgehen? „Doch, doch“, versichert man mir. „Wir können ja morgen früh wieder Sauerteigbrot kaufen.“
Marie-Sofia Trautmann
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