piwik no script img

Archiv-Artikel

Wenn Rattengift nicht mehr wirkt

Schon seit über vierzig Jahren fallen in Europa Ratten auf, die gegen die als Gift eingesetzten Blutgerinnungshemmer resistent sind. Jetzt steht fest: Genmutationen, die unabhängig voneinander in mehreren Regionen auftraten, sind der Grund dafür

DerBlutgerinnungshemmer wird nicht nur als Rattengift eingesetzt

VON GISELA SONNENBURG

So richtig beliebt sind Ratten beim Menschen nicht, vielmehr gelten sie ihm als Inbegriff für Widerwärtigkeit. Trotzdem heften sich die Tiere hartnäckig an ihn, seit er begann, Vorräte anzulegen. Die Nagetiere, von denen die braungrauen Wanderratten seit dem Mittelalter die schwärzlichen Hausratten verdrängten, knabbern nämlich gern – und ernähren sich hauptsächlich von trocken gelagertem Getreide: Eine Hundertschaft Ratten schafft 700 Kilo Körner im Jahr.

Weil Ratten zudem Krankheiten übertragen, stellen sie für Mensch und Tier eine Gefahr dar. So ist es kein Wunder, dass der Ernte- und Materialschädling seit dem Beginn seiner einseitigen Liebe zum Homo sapiens von diesem verfolgt und vernichtet wird. Bewährt haben sich dabei Gifte, die um einige Tage verzögert wirken. Denn Ratten, einigermaßen intelligent, stellen bei rasch nach der Aufnahme einsetzender Wirkung den kausalen Zusammenhang zwischen Giftködern und dem Tod der Artgenossen her. Dann lassen sie und ihre Nachkommen die tödlichen Leckerbissen einfach liegen.

Bei Antikoagulantien (Blutgerinnungshemmern) durchschauen Ratten den Mechanismus nicht. Weshalb sich Wirkstoffe wie Warfarin einbürgerten; sie stören nachhaltig den Vitamin-K-Stoffwechsel in der Leber. Ohne ausreichend Vitamin K ist aber die Blutgerinnung gehemmt, die Ratten verbluten innerlich – langsam und erst, wenn die aufgenommene Dosis hoch genug ist.

Allerdings erschreckte bereits 1958 ein Phänomen die Landwirte und Veterinäre: In Schottland wurde erstmals beobachtet, dass manche Ratten vergiftete Brocken fraßen, ohne Schaden zu nehmen. Anscheinend waren sie gegen Warfarin resistent. Auch im englischen Wales sowie auf dem Kontinent wurden in den folgenden Jahrzehnten immer wieder giftresistente Ratten gesichtet und gefürchtet: in Frankreich, Belgien, Dänemark, Deutschland.

Die deutsche Region mit den giftresistenten Nagern im nördlichen Ruhrgebiet wächst sogar kontinuierlich: Jährlich breitet sie sich bis zu zehn Kilometer aus, zwischen Holland und Ostwestfalen. Heute bildet sie zwar nur vier Prozent der gesamten Fläche der Bundesrepublik, aber die giftimmunen Tiere sind auf dem Vormarsch: „Sie sind schon auf vier von sieben in Deutschland gebräuchliche Giftwirkstoffe resistent“, so Hans-Joachim Pelz vom Institut für Nematologie und Wirbeltierkunde der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft. Der in Münster wirkende Biologe fand heraus, was die vierbeinigen Plagen immun macht: Sie weisen Mutationen an einem Gen mit dem Namen VKURC 1 auf.

„Mindestens siebenmal spielten sich solche Mutationen in Europa unabhängig voneinander ab“, sagt Pelz. Dabei handele es sich zwar immer um dasselbe Gen, aber punktuell seien jeweils andere Aminosäuren verändert. Um diese „Giftratten“ zu bekämpfen, bedarf es neuer Gifte. Ansonsten würde der Erfolg der Evolution ungebrochen fruchten: Die resistenten Ratten könnten trotz Gift weiterhin jene Enzyme produzieren, die für ihren Vitamin-K-Haushalt und die Blutgerinnung nötig sind. Sie würden ihre „Unverwundbarkeit“ ungehindert weitervererben – bis es nur noch resistente Exemplare geben würde, sagt Hans-Joachim Pelz.

Schließlich stehen Ratten, weil ihnen der Mensch stetig ans Leben will, unter starkem Selektionsdruck: Tiere mit ausgeprägter Überlebensfähigkeit verdrängen die schwächeren. Deren Auslöschung durch Menschenhand sorgt einmal mehr dafür, dass sich die Gene der anfälligen Ratten seltener weitervererben als die der resistenten.

Die Rattenbekämpfung deshalb zu unterlassen wäre allerdings keine Lösung, zu gefährlich sind Krankheiten und Keime, die von ihnen ausgehen: Die Maul-und-Klauen-Seuche ist darunter, auch die Schweinepest. Salmonellen, Leptospiren, das südostasiatische Hanta-Virus, Trichinen: „Rattige“ Krankmacher tummeln sich zahlreich auch jenseits der Beulenpest. Man wird also zu immer stärkeren Rattengiften greifen, ohne absehen zu können, ob auch auf diese irgendwann Resistenzen eintreten.

Interessant ist aber, wie die Tierforschung zur Kenntnis der Genmutationen kam: Der Würzburger Humangenetiker Clemens Müller-Reible brachte sie drauf. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Erkundung einer seltenen, vererbbaren Krankheit, die als Hauptsymptom spontane Blutungen hat. Als Grund für die Erkrankung ortete Müller-Reible Mutationen am Gen VKURC 1 – und stellte zudem fest, dass die Patienten quasi als Nebeneffekt ihres Gendefekts resistent gegen Warfarin sind.

Der Blutgerinnungshemmer wird ja nicht nur als Rattengift, sondern auch zur Thromboseprophylaxe eingesetzt. Für seine teilweise oder komplette Wirkungslosigkeit gibt es jetzt die Erklärung. Und obwohl die Genveränderung beim Menschen eine Krankheit und bei der Ratte ein Ergebnis der Evolution ist, kann Müller-Reible nun resümieren: „Die Sache lehrt uns beide Male, dass ein zunächst bizarr wirkender Einzelfall auf die Spur eines allgemeinen Phänomens führt.“