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Archiv-Artikel

Das Potenzial einer Politik der Plätze

DEMOS Ist die derzeit oft geforderte „wahre Demokratie“ überhaupt denkbar? Der ehemalige Präsident des Pariser Collège international de philosophie, Miguel Abensour, versucht sie zu denken

Die einen sehen in der Forderung nach „wahrer Demokratie“ das unerfüllbare Ideal der rebellischen Jugend zwischen Madrid und New York. Sie betonen, dass nur mit dem Parlamentarismus die Geschicke einer komplexen Gesellschaft angemessen gelenkt werden können. Andere betrachten die Demokratie als Illusion, die bloß Herrschaftsverhältnisse verberge. Miguel Abensour verwirft beide Antworten.

Der Philosoph gilt als Kenner der Frankfurter Schule und hat deren Werke in Frankreich herausgegeben. Nach Jacques Derrida und Jean-François Lyotard fungierte er als der dritte Präsident des Collège international de philosophie. In seinem neuen Buch diskutiert der emeritierte Hochschullehrer nun die Prinzipien einer wahren Demokratie.

Seinen Ausgang nimmt er bei einer ungewöhnlichen Marx-Lektüre. Abensour untersucht insbesondere die „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, eine Schrift von 1843. Dort stellt Marx einen Zusammenhang her zwischen der wahren Demokratie und dem Untergang des politischen Staates. Abensours Titel „Demokratie gegen den Staat“ verweist darauf und ist wohl auch eine Hommage an den früh verstorbenen anarchistischen Ethnologen Pierre Clastres („La société contre l’État“).

Was bedeutet die Formulierung vom Untergang des politischen Staates? Marx schwebt damit weder die spontane Selbstregierung der Bevölkerung vor noch eine Gemeinschaft, in der es keine Politik mehr gibt. Abensour zufolge zielt Marx auf die Selbstermächtigung des Demos, der den Staat auf seinen Platz verweist: „Je näher die Demokratie ihrer Wahrheit kommt (aber erlangt eine politische Gemeinschaft jemals ihre Wahrheit?), desto mehr nimmt der Staat ab und unterliegt einem Prozess des Verschwindens, das heißt, er hört auf, als Teil, der als das Ganze gelten will, seine Wirkung und Herrschaft zu entfalten.“ Die wahre Demokratie schafft kein neues institutionelles Gefüge, sondern entsteht in der Rebellion gegen den vereinheitlichenden Staat. Dieses Aufbegehren schafft einen Freiraum für das Handeln der Bürger.

Idealtypisch nimmt der Widerstreit zwischen Demokratie und Staat zwei Formen an. In einer gemäßigten Variante wird der Rechtsstaat gegen Willkür und autoritäre Tendenzen in Stellung gebracht. Klarer tritt der Widerspruch aber in einer Revolution hervor, wenn eine Rätedemokratie – Abensour denkt hier an Hannah Arendt statt an Lenin – an Stelle des Staates tritt. Allerdings kämpfe die Demokratie in einer solchen Situation nicht nur gegen den Staat der alten Ordnung, sondern auch gegen die Jakobiner, die ihn neu errichten wollen.

Abensour setzt nicht auf Erlösung und Versöhnung. Er betont, dass die wahre Demokratie eine temporäre Erscheinung ist, die durch den Konflikt immer wieder neu hergestellt werden muss. Die wahre Demokratie markiert daher nicht das Ende der Politik, sondern erlaubt erst, die Widersprüche und Gegensätze innerhalb der Bevölkerung auszutragen. Eine so verstandene Politik ist für Abensour „eine nie zu einem Abschluss kommende Frage nach der Welt und nach dem Schicksal von uns Sterblichen“.

Miguel Abensour entfaltet seine Argumentation über weite Strecken in einer systematischen Textanalyse und legt dabei anregende Verbindungen zwischen Marx und Spinoza sowie Marx und Machiavelli frei. Dabei verzichtet er auf aktuelle Bezugnahmen und konkrete Visionen. Dennoch kann sein Buch als gute geistige Lockerungsübung dienen, um jüngste Entwicklungen besser oder anders zu verstehen.

Abensours Text hilft, die Fixierung auf den Staat – als Reforminstrument oder Unterdrückungsapparat – aufzugeben und das demokratische Potenzial einer Politik der Straßen und Plätze zu begreifen. Zugleich verpasst der libertäre Philosoph all jenen einen Dämpfer, die von einer utopischen a-politischen Gemeinschaft träumen: In der wahren Demokratie beginnt der politische Konflikt erst. STEFFEN VOGEL

Miguel Abensour: „Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment“. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 269 Seiten, 24,95 Euro