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Archiv-Artikel

Wenn der Kampf um die Macht wegfällt

HIERARCHIEN Ein Traum wird wahr: Eine Kooperative in Venezuela kennt keine Chefs – und ist damit erfolgreich

Buch zum Jubiläum

■ Das Buch: Die Kooperative hat zu ihrem 45-jährigen Bestehen ein Buch veröffentlicht, das im Februar 2012 auf Deutsch erschienen ist: „Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela“. Das Buch hat 168 Seiten, kostet 9 Euro plus Versandkosten und ist nicht im Buchhandel erhältlich, sondern direkt beim Verlag: www.buchmacherei.de

■ Die Lesung: Am Mittwoch, 6. Juni, 20 Uhr, lesen die Kooperativistas von Cecosesola im Gängeviertel Hamburg, Valentinskamp 39

VON UTE SCHEUB

Ein Modell wollen sie nicht sein. Auf keinen Fall. „Es gibt kein Patentrezept, jeder muss seine eigenen Lösungen finden“, sagen sie ein ums andere Mal. Und doch ist die venezuelanische Kooperative eine Inspiration dafür, dass eine Assoziation von Freien und Gleichen scheinbar auch mit zehntausenden Menschen zu realisieren ist. Es muss ein Geheimnis geben bei Cecosesola.

Ein Leben ohne Chefs? Wie soll denn das gehen, dass sich so viele Menschen andauernd im Konsensverfahren verständigen? Und kommt man bei so vielen Treffen und Gesprächen überhaupt noch zu Muße, Leben und Lieben? „Wenn wir unsere Kommunikation als Arbeit sehen würden, wäre das furchtbar“, sagt die 34-jährige Carolina Colmenaves, die seit 16 Jahren bei Cecosesola arbeitet und gerade mit zwei weiteren Mitgliedern auf Lesereise in Europa ist. „Aber wir gehen auch in Parks oder machen Liebe, sonst hätten wir keine Kinder. Und wir haben viele!“

Cecosesola heißt ausgeschrieben und übersetzt „Dachverband der Genossenschaften für soziale Dienstleistungen im Bundesstaat Lara“. In der Millionenstadt Barquisimeto betreibt Cecosesola drei Wochenmärkte, auf denen sich rund 55.000 Familien mit Gemüse größtenteils von verbandseigenen Landkooperativen versorgen. Zum Verbund gehören über 50 Basisorganisationen mit rund 20.000 Mitgliedern: ein Transportbetrieb, eine Sparkasse, Läden für Möbel und Haushaltsgeräte, ein Beerdigungsbetrieb sowie sechs Gesundheitsprojekte, in denen jährlich knapp 200.000 Menschen behandelt werden. Der Jahresumsatz: etwa 100 Millionen US-Dollar. Chefs gibt es nicht, Jobrotation ist üblich, Entscheidungen werden im Konsens getroffen.

Womöglich ist das Geheimnis in der besonderen Geschichte von Cecosesola zu finden. Allerdings nicht in ihrer Gründung, denn die hatte ironischerweise eine antikommunistische Schlagseite. 1961 hob John F. Kennedy die „Allianz für den Fortschritt“ aus der Taufe, um mit Sozialprogrammen die Guerillabewegung in Lateinamerika einzudämmen. Mit Mitteln der CDU-nahen Adenauer-Stiftung und der katholischen Caritas unterstützte das jesuitische Centro Cumila in Venezuela die Gründung von Genossenschaften. Cecosesola wurde 1967 als Dachverband initiiert.

Doch 1972 kündigten ihre Begründer die Allianz mit der Allianz auf und schlossen sich der „Stiftung für kommunitäre Organisierung der Marginalisierten“ an. Cecosesola ist bis heute linksorientiert, zur Regierung von Hugo Chavéz mit seinem autoritären Staatssozialismus hält sie Distanz. Als die Rechtsopposition im Jahr 2002 mit einem Streik Venezuela lähmte, unterstützte Cecosesola weder den Streik noch Chavéz.

Cecosesolas Geschichte ist manchmal geradezu dramatisch bewegt. Mitten im Kampf gegen städtische Fahrpreiserhöhungen wurde 1974 eine Transportgenossenschaft gegründet, „von privaten Busbetreibern und der Stadt heftig bekämpft“, wie Jorge Rath erzählt. Der 61-jährige gebürtige Deutsche arbeitet seit 13 Jahren bei Cecosesola – inzwischen als Akkupunktur-Therapeut und Website-Betreuer. Er berichtet, die Kerngruppe von Cecosesola habe sich anfangs täglich getroffen und alles gemeinsam entschieden. So sei eine besondere Gesprächskultur entstanden, die es bis heute gebe.

Durch den Abbau von Hierarchie und den Aufbau von Vertrauen sei die „kollektive Energie“ geradezu explodiert, heißt es dazu in dem Buch, aus dem die Mitglieder der Kooperative bei ihrer Lesereise vortragen. Solidarität vervielfache sich „genau dann, wenn wir verschwenderisch mit ihr umgehen“.

In den siebziger Jahren organisierte die Buskooperative unzählige Demos, Märsche und Umsonsttransporte für die Bevölkerung. Aber viele Busse wurden beschlagnahmt und zerstört, der Ruin drohte. 1983 begann die Gruppe damit, die restlichen Busse zu mobilen Gemüsemärkten umzubauen. Diese – inzwischen stationären – Märkte wurden ein Riesenerfolg, zumal die Cooperativistas Gemüse billiger verkauften. Aber das war wohl nicht der einzige Grund: „Offensichtlich wird, sobald in einer Organisation der Kampf um die Macht als zentrales Motiv zum Verschwinden gebracht wird, eine kollektive Energie freigesetzt, die unter anderem in einer vorher ungekannten wirtschaftlichen Produktivität zum Ausdruck kommt“, ist in dem Buch über Cecosesola zu lesen.

Die 40-jährige Ilse Marquez, die in der Kooperative unter anderem in der Buchhaltung arbeitet, weiß viel über die „patriarchalisch-kapitalistische Kultur“ zu sagen, die sie überwinden wollen. Auch deshalb habe man sich entschlossen, „Frauen“-Aufgaben wie Kloputzen oder Kochen rotieren zu lassen. In der Küche etwa wechseln sich Frauen und Männer wöchentlich ab.

Die kollektive Entscheidungsfindung im Konsens sei vielleicht ihr größter Erfolg, glaubt Marquez. In allen Betrieben gibt es wöchentliche Versammlungen, hinzu kommen weitere Treffen zur Koordination oder zur Pflege und Analyse ihrer Beziehungen.

Aber wie geht die Gruppe mit Fehlverhalten um? Marquez: „Wenn einer etwas klaut, fragen wir in seiner Gegenwart: Was steckt dahinter? Warum haben wir als Kollektiv es nicht geschafft, ihm bei der Transformation zu helfen?“ Für Außenstehende, gibt sie zu, sei das nicht leicht zu erklären. Sie praktizierten eben eine neue Form des Denkens. „Kommunikation wird überraschend flüssig“, heißt es dazu im Buch. „Manchmal brauchen wir nicht einmal mehr darüber zu reden, um zu wissen, was wir alle denken. Telepathie wird greifbar.“ Womöglich sei man schon „auf dem Weg zum kollektiven Gehirn“. Vielleicht liegt darin das Geheimnis: Die Cooperativistas sehen das Unsichtbare, die menschliche Verbundenheit, als ihren kostbarsten Schatz, den sie hegen und pflegen.