Medizin zwischen Glauben und Wissen

Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke warnt: Nicht alle Erfindungen auf dem Gesundheitsmarkt nützen den Patienten

Wem nützen neue medizinische Erfindungen? „Nicht unbedingt den Patienten“, meint der Soziologe und Mediziner Norbert Schmacke: „Oft gibt es keine wissenschaftlichen Belege für den Nutzen neuer Therapieformen“, analysiert der 57-jährige Professor an der Universität Bremen.

Die Rede vom Fortschritt wecke überzogene Heilsversprechungen – eine höhere Lebenserwartung, mehr Lebensqualität, weniger Nebenwirkungen. Schmacke fordert deshalb handfeste Beweise ein: „Alle medizinischen Leistungen müssen sich an ihren Nutzen messen lassen“, so das Credo von Schmackes jüngst veröffentlichtem Buch „Wie viel Medizin verträgt der Mensch?“

Dass Roboter präziser operieren könnten als Menschen, sei zwar auf den ersten Blick plausibel – „überzeugende Beweise habe ich bislang aber noch nicht gesehen“ so Schmacke. Dennoch komme keine große Klinik in Deutschland heute mehr ohne solche technischen Helfer aus.

„Die Medizin erscheint als gigantischer Wachstumsmarkt, in dem manche Akteure virtuos mit der Angst vor Krankheit und Tod spielen“ schreibt Schmacke, von 1999 bis 2003 Abteilungsleiter beim AOK-Bundesverband. Seine Studie versteht er als Bilanz „langjähriger Beobachtungen“ der Entwicklungen in der Medizin. Mechanismen des Marktes im Gesundheitswesen besserten nicht die Qualität der medizinischen Versorgung.

Viele Gesundheitsleistungen der modernen Medizin, resümiert Schmacke, „produzieren keineswegs auch mehr Gesundheit“. So bekommen viele Frauen nach der Menopause künstliche Östrogene verordnet – in der Hoffnung, damit nicht nur den Alterungsprozess aufhalten, sondern auch das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte reduzieren zu können. „Doch das Gegenteil ist der Fall“ warnt Schmacke: „Die Plausibilität ist ein schlechter Ratgeber.“ Gefordert seien gute vergleichende Untersuchungen – doch genau daran fehle es.

Gleichwohl blühe das Geschäft mit der Angst, kritisiert der Leiter der Arbeitsstelle Gesundheitsversorgungsforschung an der Universität Bremen. „Massenhaft werden neue Medikamente an Menschen verschrieben, die bisher ohne ausgekommen sind.“ Oftmals wirken diese aber nicht besser als herkömmliche Medizin, so Schmacke. Das gelte auch für Medikamente zur Senkung des Bluthochdrucks. „Hier erweisen sich die Klassiker als ausgesprochen wirksam“ – moderne Mittel hätten ihre Wirksamkeit „nicht überzeugend“ nachgewiesen.

Umso besser ein Medikament aber wirke, desto größer werde jedoch der Vertrauensvorschuss der PatientInnen gegenüber Ärzten und Pharmaindustrie. „Hier muss man skeptisch sein“ sagt Schmacke. Das gelte auch für die weit verbreitete Nutzung von Psychopharmaka. „Die Schwelle zu deren Einsatz sinkt beständig“, sagt Schmacke – weil die Mechanismen des Marktes eine möglichst „breite Definition“ der PatientInnen einforderten. Sein Buch will er gleichwohl nicht als Plädoyer für ein verstaatlichtes Gesundheitswesen verstanden wissen. „Doch der Markt muss zivilisiert werden.“ Jan Zier