Ein Gebäude findet seinen Meister

Überhöht und schrill, mit viel Krach und viel Sex, und trotzdem ein Abend mit herzzerreißenden, sentimentalen Momenten: Frank Castorfs „Berlin Alexanderplatz“-Inszenierung im Palast der Republik in Berlin

Frank Castorf: „Es wäre ganz schön, wenn der Palast der Republik bleiben würde“

Berlins Palast der Republik ist ein sterbender Ort. Sein Abriss in diesem Winter scheint beschlossene Sache, und die Energien, die noch im letzten Sommer so lautstark in seinen Erhalt als Veranstaltungsort nach dem Modell des Pariser Centre Pompidou geflossen sind, sind längst verflogen. Zwar erwies auch Frank Castorf dieser Idee, die unter Berlins Kulturschaffenden stillschweigender Konsens ist, noch einmal seine Reverenz. „Es wäre ganz schön, wenn er bleiben würde“, sagte er pflichtschuldig, als er auf einer Pressekonferenz am Dienstag die Berliner Fassung seiner Zürcher Bühnenbearbeitung von „Berlin.Alexanderplatz“ vorstellte. Aber so richtig fiel ihm auch nichts dazu ein.

Das mag damit zusammenhängen, dass Frank Castorf den Palast der Republik noch in vollem DDR-Ornat kannte, sozusagen als gebauten Spießertraum von Wohlstand und Glück. Jetzt ist er an diesen Ort mit einem Stoff gezogen, wo dieser Hunger nach Glück und Wohlstand seine zerstörerische Kehrseite zeigt. An den Rändern des berühmten Döblin-Romans von 1929 spürt man bereits die politischen Kämpfe und Katastrophen heraufziehen, als deren Denk- und Mahnmal sich die Palastruine auch lesen lässt und von denen Castorf auf den Flügeln vieler Anekdoten mühelos den Weg ins Heute schaffte.

So erfuhr man zum Beispiel, dass Gregor Gysis Vater Klaus einst von Alfred Döblin auf die Welt gebracht worden ist. Im Hintergrund stand währenddessen schon Bert Neumanns Bühnenbild: eine etwa fünfzig Meter lange Straßenzeile aus gestapelten Containern und Baustellenzäunen mit einem billigen Imbiss in der Mitte, über den sich im Verlauf der fünfstündigen Vorstellung später immer wieder ein enormer Rollladen heben und senken wird. Darüber leuchten in mehreren Reihen rote Glühbirnen. Die Presseabteilung der Volksbühne schreibt euphorisch von der „vermutlich breitesten Breitwandbühne der Theatergeschichte“. Trotzdem sieht die 2001 ursprünglich für die Zürcher Schiffbauhalle gebaute Kulisse jetzt eher wie das Miniaturmodell einer Castorf-Bühne aus. Denn die Dimensionen des Palastes sind enorm und haben bisher noch jedes Kunstwerk zum Kunstzwerg schrumpfen lassen. Zwei Tage später tritt hier dann Max Hopp als Franz Biberkopf auf, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden ist, und man spürt: Diesmal könnte es anders kommen.

Wie ein gefangenes Tier in seinem Käfig läuft er immer wieder die ganzen fünfzig Bühnenmeter hin und her. Dabei spult er litaneihaft den Ablauf des Gefängnisalltags ab. Die Freiheit empfindet Biberkopf als Zumutung, die er nicht zu gestalten weiß. Ähnlich ist es seit der Wende wohl auch vielen Bewohnern des neuen Berlins gegangen, als deren trauriger Messias im Palast der Republik nun Döblins berühmter Romanheld wiederkehrt.

In den nächsten fünf Stunden werden wir ihm dabei zusehen können, wie er an dieser Überforderung zerbricht. Castorf taucht den Palast dafür auf weiten Strecken in einen wabernden Kinosound, der sämtliche Sinne auf Melancholie und Untergang einstellt. Selbst längere Durststrecken wüsten Leerlaufs überlebt man in dieser Klangwolke fast mühelos. Dazwischen kann man einer Castorf-typischen Truppe aus Luden und Huren bei ihren kläglichen Glücks- und Liebesversuchen zusehen, in deren Verlauf sich Castorf als würdiger Bearbeiter der Vorlage erweist. Biberkopf will anständig bleiben, doch die Verhältnisse machen dann doch wieder einen Kriminellen aus ihm.

Das geht bei Döblin wie bei Castorf mit dem Mittel der Moritat. Überhöht und schrill wird der Abstieg geschildert. Dabei wird geschrien, gevögelt und gedröhnt. Trotzdem hat der Abend immer wieder herzzerreißende, fast sentimentale Momente. Da klebt einmal der nackte Biberkopf sehnsuchtsgetrieben an der Fensterscheibe eines Wohncontainers, hinter der eine Pin-up-Hausfrau im Kittelschürzenmini aufreizend den Staubsauger schwingt. Natürlich folgt ein Castorf’scher Kopulationsslapstick.

Aber es ergreift die Inbrunst, mit der hier Biberkopfs Menschwerdung auf dem Weg der körperlichen Liebe erzählt wird. Im Verlauf des Abends wird kein Schauspielermätzchen, kein Special Effect ausgelassen. Sogar eine echte Limousine durchstößt mehrfach den hölzernen Bauzaun und fährt hupend ihre Runden durch den Palast, der sich von Stunde zu Stunde mit Castorfs Bildern von Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft in der großen Stadt füllt.

Für seine Verhältnisse fast werktreu erzählt er Biberkopfs Geschichte bis zum Untergang, als sein Freund Reinhold (Marc Hosemann) die geliebte Mieze (Bibiana Beglau) erwürgt. Am Ende hat der Palast der Republik in Castorf seinen Meister gefunden. ESTHER SLEVOGT