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Archiv-Artikel

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URAUFFÜHRUNG In ihrer Komödie „Vor dem Gericht“ am Theater Mannheim führt Sibylle Lewitscharoff ins Vorzimmer zur Hölle

Wenn das letzte Gericht keinen Sinn mehr hat, welche Erkenntnis soll man daraus ziehen?

VON ISABEL METZGER

Sterben ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Wer am Ende seiner letzten Reise die goldene Himmelspforte erwartet hat, der wird in Sibylle Lewitscharoffs erstem Bühnenstück „Vor dem Gericht“ jedenfalls eines Besseren belehrt. In einem biederen Gasthaus mit angegrauter Blümchentapete lässt die Autorin, die zuletzt für den Deutschen Buchpreis nominiert war, die frisch Verblichenen auf ihr Urteil warten. Um sie dann – notfalls mit Gewalt – entweder in den Himmel oder die Hölle zu verabschieden. Das Ganze mit einer gehörigen Portion Wiener Galgenhumor kredenzt – so erntete die Uraufführung des Auftragswerks am Mannheimer Nationaltheater vergangenen Sonntag einige Lacher.

Gevatter Tod am Tresen

Die Komik funktioniert, ohne dass Regisseur Burkhard Kosminski sehr viel dazu tun müsste. Sie lebt vom Wortwitz und legitimiert sich dadurch, dass Lewitscharoff das Sterben entromantisiert und zur Banalität erklärt: Gevatter Tod hängt gelangweilt am Tresen und spielt allenfalls für einen Bierrausch auf seiner Fidel zum letzten Tanz auf. An Stelle einer Henkersmahlzeit müssen sich die Verstorbenen mit einem Glas Wasser begnügen. Und der Fährmann auf dem Weg in den Hades entpuppt sich als maulender Wiener Ober im Schwalbenschwanz-Frack (mit authentischem Schmäh: Thorsten Danner), der „Herrschoftseitn“ einfach nur seinen gottverdammten Job macht und „bittschön keine Extrawürtschl“ bedienen will. Immerhin, das Jenseits ist technisch mehr oder weniger auf dem Stand der Zeit: Die Verstorbenen benötigen keine Flügel. Ein Paternoster bringt sie nach „oben“ oder „unten“. Rechtsspruch auf Knopfdruck also.

Die Figuren erzeugen kein Mitleid. Die „Guten“ ergeben sich anstandslos in ihr Schicksal. Und um den Rest ist es sowieso nicht schade. Im Verlaufe des Stücks lassen sie ihr Leben Revue passieren. Größtenteils sind es ganz gewöhnliche Menschen, die lieben und hassen, die genießen, Geld verprassen und sich in den Eitelkeiten des Diesseits’ ergießen.

Manch einer windet sich, quengelt, muss grob vom Ober in den Aufzug gezerrt werden. Doch am Ende haben selbst die Verlierer vor Gericht ein Einsehen, dass es nun mal nötig ist, in der Hölle zu braten. Schließlich glaubt man guten Gewissens, dass es mit diesem Einerleibrei an Eigenbrötlern ruhig den Bach runtergehen darf.

Lewitscharoff ist fest davon überzeugt, dass man über den Tod gut lachen kann. „Tote sind keinesfalls leer oder hart oder gar trist. Sie wollen von uns unterhalten werden“, kommentiert sie das Stück. In „Vor dem Gericht“ wechselt sie demnach nur die Perspektiven. „Ins Jenseits zu schauen, das hat einen besonderen Reiz“, sagt sie. Also lässt sie uns – ähnlich wie schon in ihrem Roman „Consummatus“ – für einen Moment Spion spielen und uns dabei amüsieren, wie die Toten mit ihrem Narrenschiff dem Ende entgegensegeln.

Doch was will Lewitscharoff eigentlich? Geht es ihr nur um den Klamauk? Um die Karnevaleske? Darum, ein ernstes Thema einfach mal zum Lachobjekt zu machen? Denn ob Himmel oder Hölle, irgendwie ist es ja einerlei. Derselbe Aufzug, derselbe Knopf entscheidet übers Schicksal. Das Leben zeigt die Autorin als Spiel, in dem Gott und Teufel Tür an Tür leben und beim frisch gezapften Bierchen auskarteln, wie man mit dem nächsten Kandidaten verfahren soll. Oder in den Worten des Obers: Die Zeit „drahd sich, ob soda herum oder soda herum, am End geht’s im Kreis und mia steckn im Holzpyjama“.

Wenn das letzte Gericht also keinen Sinn mehr hat, die Gesetzeshüter nicht mehr ernst zu nehmen sind, welche Erkenntnis soll man daraus ziehen? Was ist der Sinn eines Stücks über den Unsinn? Schon in einem ihrer Frühtexte entwarf Lewitscharoff ein Bild der „36 Gerechten“ aus der jüdischen Legende, die die Fehler der Welt nicht mehr durch eigene gute Taten heilen, sondern sich nur noch um sich selber kümmern. Auch in ihrem Drama „Vor dem Gericht“ können die Gerechten keine Ordnung in der Welt mehr sicherstellen. Sie ziehen bloß die Fäden in einem großen Kasperltheater.

Weitere Konsequenzen zieht Lewitscharoff nicht. Es bleibt bei der Darstellung eines chaotischen Rechtssystems. Zu fern sind die Figuren dem Betrachter, als dass er ihnen und ihrer Geschichte eine Bedeutung beimessen könnte. Geht mich das überhaupt etwas an, darf man fragen. Und falls die Antwort „ein klein wenig schon“, lautet, dann allenfalls, weil der Tod uns immer noch zu heilig vorkommt: „Ihnern ist ja keine Ahnung nicht geläufig, welchane Kurvn’s kratzn möchtn.“