berliner szenen: Nomadin schießt mit Pfeilen
Die Nomadin ist jetzt erst mal weg, nach Italien zu zwei Freunden, die dort ihr Lager aufgeschlagen haben. Zwischen den Jahren war ihr letzter Arbeitstag und sie wusste noch nicht, wann sie zurückkommt.
Ich war erstaunt, wie bestürzt ich über ihre Reise war, wir haben uns zum Abschied sogar flüchtig umarmt, sehr flüchtig, denn sie war zum Service eingeteilt und kam mit Lächeln, Kaffee nachschenken und Teller bringen und abräumen kaum hinterher. Die kirchliche Institution „Essen ist fertig“, die zwei Mal wöchentlich eine warme frischgekochte Mahlzeit an Bedürftige ausgibt, war am 1. Weihnachtstag nicht überlaufen, aber vom Personal her waren wir sehr wenige. Dennoch zauberte U., ehrenamtlich wie wir alle, an diesem Tag ein Nudelgericht mit Hackfleisch, das auch in einem besseren Restaurant auf der Karte stehen könnte.
Die Nomadin verdient ihr Geld mit Texten über Computersoftware. Weil die Arbeit bei aller Freiheit etwas einsam ist und sie nicht den ganzen Tag damit verbringt, ist sie zu „Essen ist fertig“ gekommen. Mit Kirche hat sie nichts am Hut, und das wird auch nicht nachgefragt.
Ob sich im kirchlichen Umfeld überdurchschnittlich viele Incels rumtreiben, in der Hoffnung, dass ein Schäfchen anbeißt, müsste man mal untersuchen. Mir kommt es manchmal so vor. An ihrem letzten Tag schnibbelten die Nomadin und ich im fensterlosen Keller hinter dem düsteren Pfarrsaal gerade Salat und rührten Jogurt, als zwei solche Kandidaten um die Ecke bogen. Der eine mit einem anmaßenden „Ist der Kaffee schon fertig?“ und der andere mit: „Hach, das ist aber fein, was ihr hier macht!“ Die Breitseite aus dem ruhigen Gesicht der Nomadin erwischte sie beinahe unmerklich. Wie ein Pfeil, der so präzise trifft, dass man den Schmerz zunächst nicht spürt. Aber dann tut's weh. Katrin Schings
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