berliner szenen: Mit Zeitung erster Klasse fahren
Die Großeltern haben Rabattmarken ins Heft geklebt, wir sammeln Prämienpunkte in der App. Meine Prämie bei der Deutschen Bahn: ein Freifahrtschein erster Klasse zurück nach Berlin. Noch steht der Zug. Der Schaffner wird sofort von einer Frau herangewunken: sie findet den Bezug an ihrer Kopfstütze reichlich abgenutzt. Die meisten steuern einen reservierten Platz an, Berufspendler.
Ein Mann fällt auf. Mit seinem ausgeleierten Pulli unterscheidet er sich von den anderen Männern, fast alle tragen Jackett. Ich rechne damit, dass er mir gleich die zerknitterte Zeitung anbietet, die er in der Hand hält. Aber er setzt sich in die Mitte des Wagons, den Blick auf den Schaffner gerichtet, der bald beginnt, die Tickets zu kontrollieren. Als er sich nähert, verlässt der Pulli-Mann das Abteil. Ich sehe ihn auf der Toilette wieder. Er sitzt dort und entschuldigt sich, nicht abgeschlossen zu haben. Macht nichts. Abschließen wird er trotzdem nicht, er lässt die Tür einen Millimeter offen. Als der Schaffner vorbeigegangen ist, verlässt er die Toilette, nimmt eine herumliegende FAZ und geht zum Platz zurück. Sehr lässig.
Überraschend kommt der Schaffner zurück. Ich höre seine Stimme mit Herzklopfen, stellvertretend, als sich die quengelnde Reisende noch mal beschwert, diesmal über die Schlieren am Kaffeebecher, der ihr serviert worden war. Mein Herzklopfen ist übertrieben, der Pulli-Mann kommt auch ohne mich klar. Er verwickelt über den Gang hinweg einen Zeitungsleser ins Gespräch. Ob sie nicht nach der Lektüre die Zeitungen tauschen wollen – FAZ gegen Süddeutsche?
Der Schaffner registriert die Szene, guckt etwas skeptisch, aber dreht wieder ab. Ich kann mich zurücklehnen, sogar, als die DB-App mir mitteilt, dass mein Zug heute leider ausfällt. Das weiß ich besser, ich sitze ja drin.
Claudia Ingenhoven
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