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Als der Osten zum Westen wurde

Karolina Kuszyk hat eine Leerstelle in der Erinnerung gefüllt. Sie untersucht, wie die früheren deutschen Ostgebiete zu polnischen Westgebieten wurden und wie es den Neusiedlern erging

Von Klaus Hillenbrand

Wie viele hundert Regalmeter mögen die Bücher über die „verlorenen“ deutschen Ostgebiete in heutigen Polen füllen? Tausende Broschüren wie umfangreiche Werke blicken, in der Regel nostalgisch verbrämt, auf die frühere Heimat, lassen Erinnerungen aufleben, gedenken der Plätze, Kirchen und Denkmäler. Über siebzig Jahre haben sich Vertriebene so ihrer Herkunft versichert – angesichts der Ablehnung, mit der sie im Westen empfangen worden sind, eine nachvollziehbare Reaktion.

Kaum einen Blick gab es dagegen bisher auf jene Menschen, die ab 1945 in diese Regionen kamen. Es waren in aller Regel selbst Flüchtlinge, vertrieben aus den polnischen Ostgebieten, die Josef Stalin der Sowjetunion einverleibt hatte. Jetzt endlich ist ein Buch über diese Menschen in deutscher Sprache erschienen. Karolina Kuszyk blickt dabei auf die Polinnen und Polen, die bettelarm und ohne großes Gepäck in eine Region reisten, die der polnische Staat als „wiedergewonnene Gebiete“ bezeichnete und die doch zutiefst deutsch geprägt waren.

Das ist keine lustige Geschichte, auch nicht für jene, die damals auf unzerstörte Villen mit kompletter Inneneinrichtung mitsamt Ölbildern an den Wänden und bezogenen Federbetten in den Schlafzimmern trafen. Denn Ostpreußen, Schlesien oder Pommern galten in den ersten Jahren in Polen als der „wilde Westen“. Dort marodierten Diebesbanden. Staatliche Akteure kickten Neusiedler aus allzu prächtigen Gemächern umstandslos wieder heraus, um sie für eigene Zwecke zu nutzen, und die sowjetische Armee war nicht zimperlich in der Beschlagnahmung ganzer Siedlungen.

Zum Inbesitznahme gehörte das Plündern – wenig überraschend angesichts der vorher begangenen Plünderungen polnischen und jüdischen Eigentums durch die Deutschen. Aber hier handelte es sich schließlich um „ehemals deutschen“ Besitz, der nun herrenlos schien. Karolina Kuszyk schreibt: „Es plündern fast alle. Aus Armut, aus Hunger, aus Rache für die deutschen Verbrechen und die jahrelange Demütigung, aus dem Wunsch nach Kompensation für Kriegsleid und Mangel.“

Vor allem aber blieb lange Zeit die Ungewissheit, wie lange man dort wohnen bleiben durfte. Viele Menschen fürchteten eine baldige Rückgabe an die einstigen deutschen Besitzer, und es gab Fälle, in denen Bauern ihr neues Land nicht bearbeiteten, weil sie glaubten, schon die nächste Ernte könnte den deutschen Herren zufallen.

Karolina Kuszyk: „In den Häusern der anderen“. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann. Ch.-Links-Verlag, Berlin 2022, 400 Seiten, 25 Euro

Es ging freilich nicht nur um Besitz, sondern auch um die kulturelle Aneignung eines Landes. Selbstverständlich mussten da deutsche Straßennahmen getilgt, deutsche Aufschriften weggemeißelt und neue polnische – nicht immer passende – Ortsnamen erfunden werden. Ein Ministerium für die wiedergewonnenen Gebiete wachte anfangs über die Umsetzung. Was aber sollte mit den Alltagsgegenständen geschehen, mit Waschschüsseln und Soßenterrinen, dem Besteck und den Wanddrucken mit dem Jesuskind?

Karolina Kuszyk, selbst Kind dieser Neusiedler aus dem Osten, erzählt, wie sie zu dem Buchprojekt gekommen ist. „Was ist denn das?“, habe ihr deutscher Mann entsetzt gefragt, während er auf die Unterseite einer Keramikschüssel im Haus von Kuszyks Eltern starrte. Zu sehen war dort kein Markenzeichen von Meißen – sondern ein Hakenkreuz. Die Autorin berichtet, dass sich die Schüssel schon immer im Haushalt befunden habe, besonders gut zur Zubereitung von Teig geeignet sei und sich nie jemand Gedanken über die Unterseite des Gefäßes gemacht hatte.

Das „Ausfegen der Deutschen“ endete bei den Alltagsgegenständen. Wie auch anders, die neuen Bewohner besaßen ja nichts. Und die Umgebung, in der sie nun lebten, blieb ihnen lange fremd – zu platt das Land, zu groß die Bauernhöfe, zu geordnet die Städte. Wenn sich so etwas wie ein Heimatgefühl einstellte, dann erst nach Jahrzehnten.

Unterdessen verfielen viele der alten deutschen Häuser, neue Plattenbauten mit anständigen sanitären Einrichtungen wuchsen in den Städten empor. Erst in den letzten Jahrzehnten erkannten mehr und mehr Menschen den Wert der alten Bausubstanz – und begannen, aus den Gemäuern Schmuckstücke zu machen. Nahe Słubice, gegenüber von Frankfurt (Oder) gelegen, erweckten private Initiativen gar wieder einen völlig verfallen Landschaftspark zu neuem Leben. Überraschungen sind bei solchen Maßnahmen im ehemals deutschen Osten nie auszuschließen – und so entdeckten Małgorzata und Ryszard Matecki dort einen „Hitlerstein“. Vergangenheit kann verdammt langlebig sein.

Die Vorstellung, dass das Zusammenleben verschiedener Menschen unterschiedlicher Herkunft etwas Positives beinhalten kann, war nach den Mordbrennereien der Nazis in Europa nicht eben populär. Man suchte ethnische Einheitlichkeit, nicht nur in Polen. Dass fast alle Deutschen die neuen polnischen Westgebiete verließen, galt als selbstverständlich. Dass ihre Erinnerung zu verschwinden hätten, war auch Aufgabe des Staates, der vor Gottesackern nicht Halt machte – und dazu zählten wiederum selbst jüdische Friedhöfe, die der Vorstellung eines einheitlichen, dem Sozialismus zustrebenden Volkes widersprachen.

Karolina Kuszyk stammt aus Legnica, dem früheren Liegnitz, und so ist es kein Wunder, dass sie ihr Buch mit einem Kapitel über ihre Heimatstadt beschließt – und einem positiven Ausblick. Denn die Sowjets, die dort ein ganzes und besonders schönes, selbstverständlich ehemals deutschen Stadtviertel für sich in Anspruch nahmen, sind inzwischen abgezogen. Das Denkmal auf dem Stadtplatz, das die sowjetisch-polnische Freundschaft beschwor, ist demontiert. Vor allem aber ist es in jüngster Zeit zu Kontakten zu den früheren deutschen Bewohnern und ihren Nachkommen gekommen, die dabei helfen, gemeinsam die Geschichte die Stadt zu rekonstruieren. Auch wenn sie im letzten Moment einen Rückzieher machten.

Kuszyks Buch ist wunderbar anekdotenreich. Man kann dabei lachen, auch wenn einem das bisweilen im Halse stecken bleibt. Mann kann weinen bei alledem, was Nationalismus und Nazi-Wahn angerichtet haben. Man muss es lesen, wenn man eine etwas andere Geschichte von den früher einmal deutschen Gebieten erfahren will.

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