Der Wahnsinn! Der Wahnsinn!

Permanente Innovation, Großkunstbewusstsein, Klangfetischismus: Das diesjährige Sonar-Festival in Barcelona zeigte, wie groß die Szene der elektronischen Musik ist, was für eine Vielfalt sie ausgebildet hat und welche Anziehungskraft sie besitzt

Die Musik setzte jene Körpereffekte frei, wegen derer man sich diesen Wahnsinn ja nur antut

VON TOBIAS RAPP

Was für ein Anblick. Es ist eine dieser Messehallen, in der auch der neue Superairbus ausgestellt werden könnte. Und während vor einem britische Ravetouristen die Bedeutung des Wortes Boxauto neu buchstabieren, blickt man durch den Autoscooterstand hindurch auf eine Bühne, auf der in weiter, weiter Entfernung am anderen Ende der Halle James Murphy steht, zusammen mit seiner Band LCD Soundsystem. „Ich kann euch nicht sehen“, sagt Murphy gerade, was nicht verwundert, ohne die riesigen Leinwände, die überall hängen, könnte man ihn auch nicht sehen, „aber wir versuchen, die Distanz zu überbrücken!“ Und das tun sie dann auch. Nichts, was ein bisschen Hochfahren der Geschwindigkeit und klangliche Konzentration auf die Bassdrum nicht lösen könnte. Es mögen an die 20.000 Menschen in der Halle sein, als LCD Soundsystem grandios durch ihr Programm brettern. Auch referenzgespickte, genuine Bescheidwissermusik kann also im Stadionformat funktionieren. Sie muss es nur wollen.

Über all dem permanenten Mikrowahnsinn, den ein Festival wie das Sonar in Barcelona so mit sich bringt – all die neue Musik, die Menschen mit denen man spricht, ein Bassdrumsound, den man noch nie gehört hat, Zufälle aller Art – gerät der Makrowahnsinn ja leicht aus dem Blick: wie groß das Ganze ist, was für eine Vielfalt diese Szene ausgebildet hat und was für eine Anziehungskraft sie nach wie vor auszustrahlen in der Lage ist.

Musikinteressierte Besucher aus den Vereinigten Staaten staunen ohnehin immer wieder über den Status elektronischer Musik in manchen Städten des europäischen Kontinents, wo dieser Sound, obwohl er so gut wie nie in den Charts auftaucht, absolut milieuübergreifend Konsens stiften kann. In den Messehallen wunderte man sich selbst: Wahnsinn. So viele Leute.

Nun gibt es viele Musikfestivals. Was das Sonar zu etwas Besonderem macht, ist, dass es seine eigene Größe so gut zu verbergen weiß. Für all die Brancheninsider, Labelmacher, Clubbetreiber, Fanzinemacher und sonstwie in der elektronischen Musik Beschäftigten, die jedes Jahr für ein verlängertes Juni-Wochenende nach Barcelona reisen (die Hälfte kommt aus England – das ganze Stadtviertel ist für ein Wochenende voll krebsroter Gesichter, die glücklich lächeln), ist es das ideale Branchentreffen – die Elemente mit der Tendenz zum Aus-dem-Ruder-Laufen sind perfekt ausgelagert. Tagsüber drückt man sich auf dem übersichtlichen Festivalgelände in der Altstadt herum – es befindet sich in den Räumlichkeiten das Centre de Cultura Contemporània de Barcelona –, nachts geht es entweder zum Großrave aufs Messegelände (der mit seinen Eintrittsgeldern den Rest subventioniert) oder zu einer der Partys am Strand oder in den zahllosen Clubs der Stadt. Denn auch wenn längst nicht jedes Label auf dem Sonar selbst präsent ist – wer etwas auf sich hält, gibt sich zumindest in irgendeiner Bar die Ehre.

Das Festival mag zwar im vergangenen Jahr 46,9 Millionen Euro zum katalanischen Bruttosozialprodukt beitragen und 216 Jobs geschaffen haben, wie stolz bekannt gegeben wurde. Sein Erfolg beruht auf der Anmutung von Übersichtlichkeit (auch wenn die Veteranen immer wieder betonen, wie viel schöner das Sonar früher war, als es noch am Strand stattfand – aber selbst diese Erzählung gehört längst zum Standortvorteil).

Die Wiederkehr der Stimme in der elektronischen Musik sollte der Schwerpunkt des diesjährigen Sonar sein und mit der Moloko-Sängerin Roisin Murphy, der Britin M.I.A., der Kölner Technoproduzentin Ada und den Berlinern Mocky und Jamie Lidell waren eine ganze Reihe von Künstlern eingeladen, die die Stimme in den Mittelpunkt ihres Tuns stellen. Das eigentliche Zentrum des Festivals bildete aber jemand anders: Der Minimal-Techno-Pionier Richie Hawtin war es, dem man an den drei Tagen kaum entgehen konnte.

Tatsächlich hat Hawtin, seit er vor gut zwei Jahren nach Berlin gezogen ist, wieder eine Präsenz wie schon einmal in den frühen Neunzigern, als er von Detroit aus hypnotisch-harten Techno in die Welt sendete. Es mag die glückliche Konstellation mit gleichgesinnten DJs und Produzenten sein oder der Fortschritt der Musiktechnologie – Hawtin ist tatsächlich etwas Neuem auf der Spur. Durch seine Benutzung von neuer Musik-Software wie Final Scratch und Ableton Live ist er dabei, jenes Format obsolet zu machen, das eigentlich immer als zentrales Trägermedium elektronischer Musik galt: die 12-Inch-Maxisingle.

Wenn das Programm eines DJs in den vergangenen 20 Jahren im Idealfall immer darin bestand, mit den Stücken anderer eine eigene Geschichte zu erzählen, so kann Hawtin, weil er die Tracks nun auf der Festplatte hat und weil ihm seine Software erlaubt, diese nach Belieben zu manipulieren, das Material noch gründlicher zerlegen und individuell zurichten. Er kann tatsächlich Abend für Abend ein Set spielen, das so nicht wiederholbar ist.

Dreimal war Hawtin in Barcelona präsent. Zum Auftakt des Festivals führte er gemeinsam mit einem Sinfonie-Orchester zwei Stücke seines letzten Plastikman-Albums auf (da konnte nicht viel schief gehen, die Stücke lassen ja genug Luft für drei Orchester). Als Höhepunkt des Großraves auf dem Messegelände präsentierte er einige Künstler seines m_nus-Labels. Und in einem Kellerraum des Festivalgeländes konnte man sich seine neue, im Herbst erscheinende Mix-CD anhören.

Aber während man in diesem abgedunkelten und angenehm gekühlten Zimmer saß, das den Charme eines High-End-Boxen-Textstudios hatte (die einzigen Lichtquellen waren Strahler, die auf die Boxen gerichtet waren!), und sich Hawtins neuestes Werk im Dolby 5.1 Surround Sound anhörte, konnte man sich des Gefühls nicht erwehren, dass es am Beispiel Hawtin wahrscheinlich ein ganz neues Virtuositätsmodell zu entwickeln gilt. Eines, das endlich das Erbe der Siebzigerjahre abschüttelt und jene nachhaltige Abneigung, die sich damals in Abgrenzung vom selbstherrlichen Gitarrensolo-Gegniedel und Technikfetischismus des Jazzrock und Progrock entwickelte.

Denn im Grunde ist Hawtins Methode diesem ganz ähnlich. Größtmögliche Beherrschung der neuestmöglichen Technik, permanente Innovation, das eigene Tun als Großkunst begreifen, Klangfetischismus. Es hört sich nur nicht so an. Das mag daran liegen, dass Hawtin und seine Mitstreiter trotz neuester Software und massivstem Fortschritts-Gedöns eben doch in genau jenem ästhetischen Rahmen operieren, den Hawtin in den frühen Neunzigern einmal selbst abgesteckt hat, das Technogrundprogramm Roland-909-Drummachine und 303-Acidmachine. Vielleicht sollte man in der Benutzung historischer Analogien aber auch vorsichtiger sein – egal ob kleiner Kellerraum oder Großrave: Die Musik funktionierte und setzte jene Körpereffekte frei, wegen derer man sich diesen ganzen Wahnsinn ja überhaupt nur antut.

Doch der Ruf des Sonar basiert auch darauf, immer wieder etwas Neues zur Entdeckung freizugeben. Hot Chip aus England waren das in diesem Jahr: fünf Jungs, die aussehen, als hätte ein verrückter Wissenschaftler bei dem Versuch, eine Boyband zu klonen, aus Versehen die falschen Zutaten benutzt und statt der fünf Schönlinge seien fünf Nerds den Reagenzgläsern entstiegen. Und zwar ein pickliger Frickler mit strengem Körpergeruch, ein rothaariger Schlacks, der gerne über seine Füße stolpert, ein Westentaschennapoleon, ein leicht übergewichtiger Indierocker und ein Gutaussehender – der aber aus lauter Rücksicht auf seine Bandkollegen sein Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt hält. Zusammen spielen sie einen einigermaßen unkategorisierbaren Mix aus electroclashverwandtem Synthiegebolze, wunderbarem Großpopchorgesang und einer Funkgitarre. Als würden sich die Beach Boys mit der Human League und den Neptunes zum Tee treffen.

Dass mit den Postpunk-Veteranen von Durruti Column ausgerechnet eine Band eingeladen war, die sich durch ihren Namen auf einen der katalanischen Anarchisten aus dem Spanischen Bürgerkrieg beruft, der aus genau jenem Viertel stammte, in dem auch das Festival stattfand, hatte seine ganz eigene Ironie. Denn die anarchistische Gewerkschaft CNT, die in der Altstadt von Barcelona nach wie vor sehr stark ist, hatte auch in diesem Jahr wieder zum Protest gegen das Sonar gerufen: Aus allen Fenstern rund um das Festivalgelände hingen „Sonar No“-Transparente.

Doch wie schwer es ist, ein Spektakel wie das Sonar anzugreifen, zeigte sich am deutlichsten bei einer der wenigen Gegenaktionen: Ein paar Schritte vom Festivalgelände entfernt hatten sich einige Künstler hinter einem „Unterstützt die lokalen Künstler“-Schild aufgemacht, typische Hausbesetzerkunst aus Schrott und Müll zusammenzuschweißen – was prompt ein beliebtes Ziel für Kamerateams wurde, die einen authentischen Hintergrund für ihre Interviews mit den Stars des Festivals suchten. Gut funktionierende Kulturspektakel haben eben kein eindeutiges Außen. Sie schmiegen sich organisch in die Nischen ihrer Stadt ein und nutzen selbst die Ressourcen, die sich ihnen eigentlich zu widersetzen versuchen.