: Bühls Bernsteinzimmer
AUS BÜHL BARBARA BOLLWAHN
Seine Frau ist lange der einzige Mensch gewesen, dem Hans M. die Geschichte erzählt hat. Das ändert sich erst, als er im Frühjahr 2003 Fernsehberichte über die Wiederherstellung des von den Nazis aus St. Petersburg geraubten Bernsteinzimmers sieht, nach dem Historiker, aber auch Schatzsucher jahrzehntelang vergeblich geforscht haben. Kurz darauf wird er krank. Mit den Herzproblemen kommt die Angst, er könnte sterben, und mit ihm die Geschichte, die er seit 1945 mit sich herumträgt.
Er entschließt sich, sie seiner Tochter und seinem Schwiegersohn zu erzählen. Ohne dass er es merkt, entgleitet ihm damit die Sache. Der Fall wird weitergereicht wie heiße Ware. M. wird zum Spielball seiner Geschichte und landet am Ende auf der Anklagebank des Amtsgerichts der badischen Kleinstadt Bühl.
Hans M. trägt glaubwürdig aus seiner Erinnerung vor, er spricht nüchtern, detailliert, aber nie ausschweifend und ohne Widersprüche. Seine Geschichte beginnt im Frühjahr 1945. Er ist fast zehn Jahre alt, lebt in Bühl, in der Nähe von Baden-Baden. Er wartet im Burgweg, der hoch zur Burg Windeck führt, auf den Cousin seiner Mutter. Der ist Prokurist bei einer Firma, die in einem Stollen Schnaps einlagern will, kurz vor dem Einmarsch der Franzosen. Eine aufregende Sache für einen kleinen Jungen. Doch statt eines Lastwagens mit Hochprozentigem sieht er drei Lastkraftwagen mit SS-Männern heranfahren, die mit Maschinenpistolen bewaffnet sind. 18 Männer zählt er. Drei Fahrer mit schwarzen Uniformen mit Armbinden, auf denen „Leibstandarte Adolf Hitler“ steht. Die anderen tragen grüne Uniformen. Einer der schwarz gekleideten Männer sieht den Jungen und scheucht ihn weg. Er versteckt sich und beobachtet, wie die grün Uniformierten eilig Kisten in den Stollen schleppen. Als die letzte Kiste im Berg ist, gehen die schwarz Uniformierten hinein. Hans M. hört Schüsse und eine Explosion. Er glaubt, dass weniger Männer herauskommen, als hereingegangen sind. Verängstigt läuft er nach Hause.
Der Brief von Paul Spiegel
58 Jahre ruht die Geschichte. Dann, im Oktober 2003, verbreitet sie sich in nur wenigen Tagen. Sein Schwiegersohn, ein Anwalt, erzählt sie einem befreundeten Anwalt in Düsseldorf, Claus Liesenfeld. Liesenfeld erzählt sie einem Bekannten, Paul Spiegel, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Spiegel schreibt einen Brief an die Oberbürgermeisterin von Baden-Baden. Darin steht, dass Anwalt Liesenfeld sein Vertrauen genießt und dass er um Hilfe bei einem Bergungsversuch von Raubgut bittet, bei dem es sich um jüdisches Eigentum handeln könnte. Weil die Oberbürgermeisterin nicht zuständig ist, informiert sie Hans Striebel, den Oberbürgermeister von Bühl.
Der ist der Erste, dem nicht nur ein möglicher Schatz, sondern die mögliche Tötung der Uniformierten auffällt, als Hans M. in Begleitung von Anwalt Liesenfeld bei ihm erscheint. Liesenfeld eröffnet dem Bürgermeister, dass Hans M. ihm „ein Privatgeheimnis“ anvertrauen wolle. Er bittet um Vertraulichkeit und darum, wenige Tage später den Burgweg abzusperren, um mit einem Grabungsteam einen Bergungsversuch in dem Stollen zu unternehmen. In der Kleinstadt genießt Hans M. den Ruf eines unbescholtenen Bürgers. Als er von den Schüssen und der Explosion erzählt, erklärt ihm der Bürgermeister, dass er die Polizei verständigen müsse, weil möglicherweise ein Verbrechen begangen wurde.
Die Polizei lädt Hans M. zu einer Zeugenvernehmung. Noch einmal gibt er detailliert wieder, was er damals gesehen hat. Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit haben die Beamten nicht. Auch die Staatsanwaltschaft in Baden-Baden nicht, die von der Polizei in Bühl verständigt wird und Ermittlungen gegen unbekannt einleitet. Die Staatsanwaltschaft will klären, ob SS-Männer in den letzten Kriegstagen in Bühl Morde verübt haben.
Unter strengster Geheimhaltung gräbt ein Bagger den Stollen auf. Die Bauarbeiter müssen schriftlich erklären, Stillschweigen zu wahren. Damit soll verhindert werden, das Schatzsucher angelockt werden. Der Kampfmittelbeseitigungsdienst rückt mit einer Metallsonde an. Ein Geologe untersucht die Beschaffenheit des Stollens und des Erdreichs auf Spuren einer Explosion. Die Staatsanwaltschaft fragt in Archiven nach, unter anderem in Ludwigsburg bei der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen, ob Anhaltspunkte für M.s Geschichte vorliegen.
Das Ergebnis der Ermittlungen: keine Beweise. Deshalb sitzt M. nun, gut anderthalb Jahre später, in dem kleinen Raum des Amtsgerichts. Gegen einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft über eine Geldstrafe in Höhe von zwei Monatseinkommen hat sein Anwalt Einspruch eingelegt. Jetzt ist er Angeklagter, wegen Vortäuschung einer Straftat.
Im Mai dieses Jahres ist Hans M. 70 Jahre alt geworden. Von der Krankheit hat er sich anscheinend erholt. Er sieht wesentlich jünger aus, die Haare sind weiß, aber voll, die Haut straff und braun, die Gläser seiner Brille hellblau getönt. Sein Gedächtnis ist präzise. Ohne zu stocken erzählt er dem Staatsanwalt und der Richterin detailliert seine Geschichte, die er mittlerweile schon so oft erzählt hat.
Er versteht nicht, wie er zum Angeklagten werden konnte. Er hat ja keine Anzeige erstattet. Als juristischer Laie muss der ehemalige technische Angestellte nicht wissen, dass offizielle Stellen wie die Polizei von Amts wegen tätig werden müssen, wenn sie einen Verdacht auf ein Verbrechen haben. Und genau solch einen Verdacht enthält seine Geschichte. Schließlich hat er mehrfach ausgesagt, dass er den Eindruck hatte, dass nach den Schüssen und der Explosion weniger Männer aus dem Stollen herausgekommen als hineingegangen sind.
Staatsanwalt Michael Klose ist ein besonnener Mann. Kein Spott, keine Witze über M., er hält ihn für glaubwürdig. Doch für ihn zählt das Ergebnis der Ermittlungen. Außerdem hat er einen hässlichen Verdacht: „War es nicht etwa so, dass Sie eine private Schatzsuche betreiben wollten?“, fragt er. „Nein, auf keinen Fall“, antwortet Hans M. „Da hätte ich ja 60 Jahre Zeit gehabt, etwas zu organisieren.“ Zwei Polizisten erklären als Zeugen, dass ihnen Hans M. nicht wie ein dubioser Schatzsucher vorkam. Er habe zwar „ein gewisses Interesse“ an der Öffnung des Stollens gehabt, sagt der eine. „Aber er hat keinen ausdrücklichen Wert darauf gelegt.“ Der andere erklärt, dass Hans M. die Geschichte habe verarbeiten wollen, und „die Dimension, die sie erreicht hatte, von ihm gar nicht gewollt war“.
Der Großstadtanwalt
M.s Verteidiger ist Claus Liesenfeld, der Mann, der die Schatzsuche vorangetrieben hatte – und dem der Rentner den Ärger zu einem guten Teil zu verdanken hat. M. räumt ein, dass es ihn interessiert habe nachzuschauen, ob die Kisten noch in dem Stollen sind. Doch aus seiner Aussage wird klar, wer die treibende Kraft war. „Liesenfeld fragte mich, ob ich mitgehen würde, wenn er was unternehmen würde.“
Dabei hätte der Jurist wissen müssen, dass die Aussage seines Mandanten den Anfangsverdacht eines Verbrechens beinhaltet. Doch Liesenfeld gibt in dem kleinen Amtsgericht den Großstadtanwalt. „Es sollte eine Grabung durchgeführt werden. Das war unsere Intention. Die Schüsse und die Detonation waren eine Nebensächlichkeit der ganzen Geschichte.“ Und: „Mein Mandant wollte ein Privatgeheimnis eröffnen und öffentliche Hilfe, dass das Graben nach den Kisten erlaubt wird. Was letztlich daraus geworden ist, konnten weder er noch ich vorhersehen.“ Immer wieder befragt er den Bürgermeister im Zeugenstand, ob er ihm nicht Hilfe bei der Bergung und Vertraulichkeit zugesichert habe. Als er den Verdacht äußert, dass seinem Mandanten bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, bei der er nicht zugegen war, die Anzeige diktiert worden sei, unterbricht ihn der Staatsanwalt: „Ich muss mich fragen, ob der Angeklagte nicht einen Pflichtverteidiger braucht“, sagt er und schafft es gerade noch, seinen Tonfall zu bändigen. „Sie wollen oder können nicht anwenden, was Sie möglicherweise in einem Studium gelernt haben.“ Liesenfeld schweigt.
Der Staatsanwalt beantragt 2.800 Euro Geldstrafe und bleibt damit am unteren Rand des Strafrahmens. Er hält Hans M. neben seiner Unbescholtenheit eines „ganz wesentlich“ zugute: „Er ist nicht von sich aus zur Polizei gegangen, sondern mehr oder weniger gegen seinen Willen in ein behördliches Verfahren reingezogen worden.“ Die Richterin verurteilt ihn zur Zahlung von 1.200 Euro. Zur Begründung sagt sie unter anderem, sie habe den Eindruck, M. sei falsch beraten worden.
Und die Kisten? Für die Justiz gibt es sie nicht. Aber in Bühl erzählt man sich schon lange von einem unterirdisches Stollensystem zur Burg. Möglich ist alles. Wie beim Bernsteinzimmer.