berliner szenen: Tiere beobachten umsonst
Ich stehe am S-Bahnhof Gesundbrunnen und warte mit vielen anderen auf die Ringbahn, die sich mal wieder verspätet. „Zugstörung“ steht auf der Digitalanzeige, es komme zu unregelmäßigem Zugverkehr. Ich seufze. Die nächste Bahn soll erst in zwölf Minuten kommen und erwartungsgemäß wird man sich in diese hineinquetschen müssen. Wenn man überhaupt noch hinein kommt, denn mittlerweile ist der Bahnhof schon proppenvoll. Ich werde wohl zu spät zu meinem Termin kommen.
Über den Schienen auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig fällt mir ein kleiner, älterer Mann ins Auge. Er trägt eine leuchtend gelbe Jacke, dazu eine rote Jutetasche um den Arm und sieht mit einem versonnenen Lächeln ins Gleisbett. Ich folge seinem Blick und versuche zwischen den grauen Steinen zu erkennen, was er da unten sieht. Erst als ich meine Brille aufsetze, bemerke ich, dass sich neben den Schienen ein paar Mäuse tummeln. Inzwischen ist ein Paar mit einem Koffer ebenfalls auf die Mäuse aufmerksam geworden. Alle drei sehen gebannt ins Gleisbett.
„Da ist ja was los“, sagt die Frau zu dem alten Mann gewandt. Er lächelt und nickt. „Ich beobachte sie jeden Tag, wenn ich hier stehe.“ „Quasi wie’n kostenloser Zoo“, sagt die Frau. Ihr Partner lacht.
Der alte Mann sieht lächelnd auf und sagt: „Ja sehen Sie, in freier Wildbahn ist Tierbeobachtung interessanter als im Zoo.“
Die Frau zuckt mit den Achseln.
Alle Drei sehen wieder ins Gleisbett.
Ihre Bahn fährt ein und als sie wieder abfährt, entdecke ich plötzlich den alten Mann an einer anderen Stelle weiter links auf dem Bahnsteig. Ich bin überrascht, dass er nicht in die Bahn gestiegen ist, aber ich erkenne ihn gut an seiner gelben Jacke. Er steht an der Kante des Bahnsteigs und sieht mit einem lächelnden Blick hinunter auf die Gleise. isobel markus
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