berliner szenen: Arbeit am Sonntag
Eine der jungen Frauen am Straßenstrich fällt besonders auf. Sie steht nicht jeden Tag in der Kurfürstenstraße, aber wenn, dann immer an mehreren Tagen hintereinander. So als sei sie zur Arbeit angereist. Oft trägt sie ein neues Outfit. Alles in leuchtendem Rot oder ganz in Neonfarben gestylt. Kein Glitzer, keine hohen Absätze, sondern Turnschuhe in passenden Farben. Wenn sie an der nahegelegenen Turnhalle stünde, würde man sie für eine Rollschuhläuferin vor dem Training halten. Ihre Figur wirkt leicht und drahtig, ständig ist sie in Bewegung – hin und zurück stapft sie auf kurzer Distanz, hin und zurück. Was außerdem auffällt: Die meisten Freier weist sie ab. Wenn einer mit quietschenden Reifen neben ihr hält, dreht sie sich gleich weg. Mit anderen verhandelt sie durchs Autofenster, höchstens 30 Sekunden, bevor sie kerzengerade weiterstapft. Manchmal teilt sie ihre Kopfhörer mit zwei anderen Frauen, die etwas offensiver auf sich aufmerksam machen – nur kurz, nicht mal einen Song lang.
An diesem Sonntag steht sie mit einem Kunden an der Ampel. Die beiden warten schon eine Weile, ein Motorradcorso muss erst passieren. Während sie ungeduldig wippt, scheint der Freier die Situation zu genießen. Als gehörte sie zu ihm, ein Paar beim Herbstspaziergang. Dass der Mann doppelt so alt aussieht, ist ja nicht ungewöhnlich.
Schließlich steuern sie eine Eckkneipe an, die auch Pensionszimmer vermietet. Vor der Tür werkelt ein Trupp Straßenarbeiter. Während die Motorradabgase noch in der Luft hängen, tragen sie knallrote Farbe auf die verblassten Fahrradwege. Die vor ihnen liegende Strecke ist lang. Fragt sich, welche der beiden Sonntagsarbeiten weniger belastend ist. In der Taktung jedenfalls unterscheiden sie sich. Der Freier kommt nach genau 10 Minuten aus der Pension – alleine.
Claudia Ingenhoven
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